1993 Der Todesstrudel

Verlag Eulenspiegel - Das Neue Berlin

Klappentext:

Pech für Karl Mebes: Bei einem Lohngeldraub hat er zwar reiche Beute gemacht, aber einen Wachmann erschießen müssen. Nun war sein getürktes Alibi keinen Pfifferling wert, und die Polizei würde ihn gnadenlos jagen. Doch würde sie ihn, den "Meisterdieb" aus Hannover, auch östlich der Elbe vermuten? Gewiß nicht, dachte er und: "Erst mal abwarten, was die Bullen herausfanden. Wenn es so wenig wie üblich war, konnte er immer noch zu seinem alten Plan zurückkehren." - Eine Illusion. Sein Trip in ihm ganz und gar unbekanntes Gefilde wurde mörderisch...

Buchcover "Der Todesstrudel"

Auszug:

 

Freitag, 01.30 Uhr

Als der zweite Wachmann kam, verlor Mebes die Nerven und schoß. Im selben Augenblick wußte er, daß es ein Fehler war. Nicht etwa, weil er befürchtete, gehört zu werden, sondern wegen der Auswirkungen auf den Arbeitseifer der Polizei. Wer sollte hier schon Schüsse hören? Mehr als zwei Wächter beschäftigten sie gewiß nicht, da sie das hervorragende elektronische Sicherheitssystem für zwei Millionen Mark besaßen, das er gerade eben mit einem Draht überbrückt hatte. Eine Kleinigkeit, wenn man Bescheid wußte. Und er wußte Bescheid, denn einst - in grauer Vorzeit, so schien es ihm, fast schon in einem anderen Leben, einem friedlicheren, doch nicht unbedingt glücklicheren - irgendwann hatte er Alarmanlagen verlegt, bis er endlich begriff, daß sich mit dem Abschalten wesentlich mehr Geld verdienen ließ. Wenn man nicht ertappt wurde. Bislang war er nur einmal gefaßt worden, bei einem Bagatelldiebstahl von nicht mal Fünfzigtausend; die anderen Einbrüche konnten sie ihm nicht nachweisen.

Gepriesen sei der Rechtsstaat, in Ewigkeit.

Oder auch nicht, denn drei Jahre Gefängnis waren mehr Unrecht, als er mit seinen zaghaften Besitzumverteilungsversuchen jemals anzurichten imstande war.

            Mebes hatte seinen neuen Coup zwei Monate hindurch sorgfältig vorbereitet. Wer da behauptet, ein Einbrecher arbeite nicht ernsthaft, der hat keine Ahnung. Die schwerste Aufgabe war das Warten. Nichts tun als Beobachten, die Eindrücke registrieren, kombinieren, im günstigsten Fall Pläne entwickeln. Und wieder warten, beobachten, registrieren. Unauffällig bleiben - denn wer tagelang auf der Straße steht oder in Häusern herumschleicht, macht sich verdächtig. Also hatte er sich kostümiert - als Penner, als Geschäftsmann, als Vertreter, als Tourist, und er hatte sich maskiert - mit Perücken, falschen Bärten, Brillen. Er hatte Hausfrauen nach ihren Einkaufsgewohnheiten befragt und alles sorgfältig in Fragebögen eingetragen, die er zuvor daheim am Computer selbst ausgedruckt hatte und die er am Abend ungelesen verbrannte. Nach und nach wußte er über den Betrieb so gut Bescheid wie einer der Direktoren und besser als das Finanzamt.

            Die SolidBau AG beschäftigte als Arbeitnehmer der untersten Lohnkategorie vornehmlich Ausländer, Afrikaner, Türken, neuerdings auch Jugoslawen, die dem Krieg entflohen waren. Sie waren legal angestellt oder auch schwarz; das scherte ihn nicht. Wichtig war, daß ein Teil der Löhne wochenweise bar ausgezahlt wurde. Bei der Größe des Betriebes mußte es sich um etliche Hunderttausend D-Mark handeln. Eine Viertelmillion mindestens, wahrscheinlich wesentlich mehr. Jeden Donnerstag fuhr der gepanzerte Transporter vor, ausgezahlt wurde Freitags. Anderthalb Monate hatte er gebraucht, an einen Lageplan heranzukommen, fast genauso lange, um die Art der Alarmanlage zu ermitteln. Solcherlei Auskünfte bekommt man nicht auf der Straße oder bei Hausumfragen. Einen Wächter beobachtete er bei dessen nächtlichen Rundgängen, prägte sich ein, wo er die Taschenlampe einschaltete und wo das Deckenlicht, stellte fest, welche Räume er niemals betrat.

Einen nur. Einen. Woher kam auf einmal der zweite, ausgerechnet an diesem entscheidenden Tag? Das Leben war ungerecht zu Mebes.

            Der Wachmann bevorzugte zwei Rundgang-Varianten. Beide führten ihn an der Stelle vorbei, die Mebes zum Kurzschließen des Stromkreises ausgewählt hatte. Geduldig erwartete er ihn, zur Sicherheit mit einer Strumpfmaske über dem Kopf, setzte ihm die Pistole

Colt 45 ACP Government Model, die offizielle Waffe der US-Streitkräfte seit 1911

zwischen die Schulterblätter und fesselte ihn mit dessen eigenen Handschellen an einen Heizungskörper. Dabei sprach Mebes nicht, um später nicht an seiner Stimme erkannt werden zu können. Der Wachmann wußte schon, wie er sich zu verhalten hatte, als er den Stahl

                        matte stainless, with black walnut stocks, Model number 01070

im Kreuz spürte. Und als ihn der Gefesselte ansprach, während Mebes die Wandverkleidung löste, brauchte er ihm nur den Colt zu zeigen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das glückte allerdings nicht sofort, und nun war ihm auch klar, warum der Wachmann überhaupt geredet hatte: Um die Geräusche des herankommenden zweiten Mannes zu übertönen und den Kollegen durch seine Stimme zu warnen.

            Fast hätte der Wächter Erfolg gehabt, denn Mebes hörte den zweiten Mann erst, als der die Tür aufklinkte. Ein Hüne, nicht älter als Mebes, durchtrainiert; besser, man ließ ihn nicht dicht an sich herankommen. Offenbar nicht der hellste Kopf, denn er hielt zwar eine Pistole in der Rechten, weil er seinen Kollegen sprechen gehört hatte, jedoch war der Lauf zu Boden gesenkt, während Mebes, der den Gefesselten durch Drohen mit der Waffe zum Schweigen brachte, seinen Colt waagerecht hielt. Nur zielen mußte er in die Gegenrichtung.

            "Was ist denn...", setzte der Hüne an, da drückte Mebes ab. Er schoß aus der Hüfte. Der Wachmann war so groß, daß selbst ein schlechter Schütze ihn kaum hätte verfehlen können. Mebes war ein guter Schütze. Der Riese verharrte in seiner Bewegung. Ließ die Pistole sinken. "... hier los", vollendete er seinen Satz, dann brach er zusammen. Mebes hielt ihm seinen Colt an die Stirn und untersuchte ihn. Herzschuß. Der Wächter war tot.

            Und dafür verfluchte sich Mebes. Weniger aus Gewissensgründen, so redete er sich sofort ein: Es gehörte zum Risiko von Wachleuten, erschossen zu werden, wie es zum Risiko von Testpiloten gehörte, abzustürzen, oder zum Risiko von Einbrechern, festgenommen zu werden. Sie hatten den Beruf selbst gewählt und Pech gehabt. Es war vorteilhafter, wenn sie tot waren und er frei blieb, als wenn er wieder ins Gefängnis mußte. Denn wenn er dort auch vieles gelernt hatte, noch einmal wollte er nicht unbedingt zurück, vor allem nicht als vorbestrafter Rückfalltäter nach einem Halbmillionencoup. Zehn Jahre mindestens würde er bekommen. Dann wäre er fünfzig. Nein, es war schon folgerichtig gewesen, daß er abgedrückt hatte, umsomehr, als ihm sonst ja vielleicht der Wachmann zuvorgekommen wäre. Der schwerfällige Hüne hätte seine bereits gezogene Waffe wahrscheinlich nicht auf bloßen Zuruf gesenkt und sich widerstandslos fesseln lassen.

            Andererseits, da machte Mebes sich nichts vor, war es eben doch ein Fehler. Auf Grund der Tatsache, daß seine Methode aktenkundig war, gehörte Mebes auf jeden Fall zum Kreis der Verdächtigen, die routinemäßig überprüft werden würden. Bei einem simplen Raub würde sein vorbereitetes Alibi ohne jeden Zweifel standhalten. Weniger gut standen seine Chancen bei einem Mord.

            "Du Schwein!" brüllte der Gefesselte und zerrte an der Kette, daß sich das Heizungsrohr verbog. "Du hast ihn umgebracht! Du Schwein!"

Als ob das neu für mich wäre! Natürlich habe ich ihn umgebracht. Ihr zwingt mich dazu, indem ihr eine Welt voller Versuchungen einrichtet und mir zu wenig abgebt, sie zu genießen.

            Er preßte ihm den Colt an die linke Schläfe. Der Wachmann war in seiner Wut und rasenden Trauer weder zu rationalen Überlegungen noch zum Empfinden der Angst fähig und brüllte weiter. Mebes war versucht, abzudrücken. Er beherrschte sich. Noch immer hatte er nicht gesprochen, also bestand keine Notwendigkeit zum Töten. Er schlug ihm den Kolben seiner Waffe auf den Hinterkopf und hatte - zumindest akustisch - die Ruhe, die er brauchte, um nachzudenken.

            Raubmord - das bedeutete: Eine Sonderkommission der Polizei wurde gebildet. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Polizisten würden Tausende von Leuten befragen, deren Beobachtungen sammeln und auswerten. Was, wenn er, Mebes, dabei erkannt, fotografiert, gefilmt wurde, wie er sich nach Frankreich oder in die Niederlande absetzte, während er sich angeblich schon längere Zeit dort aufhielt? Ein Bekannter  Freund mochte er ihn nicht nennen - reiste an seiner Stelle mit seinem Auto, warf im Zweitageabstand die vorbereiteten Ansichtskarten an Mebes' greise Mutter in die Postkästen und hinterließ dezente Spuren von Mebes' Anwesenheit - ein Service, den er sich zehntausend Mark kosten ließ. Was, wenn der gefällige Bekannte mehr forderte, da es sich um Mord handelte? Reine Spekulation einstweilen. Das konnte entschieden werden, wenn es so weit war. Die Frage des unbeobachteten Verschwindens hingegen mußte er sofort klären. Was, wenn er im Zug einen Bekannten traf? Was, wenn ihn der Schaffner später bei Vorlage des Fahndungsfotos erkannte?

            Mebes schwitzte unter seiner Strumpfmaske, und die Luft wurde knapp. Trotzdem setzte er sie nicht ab - dabei hätte er zweifellos Haare verloren, und die waren zur Identifikation genauso geeignet wie Fingerabdrücke. Lange allerdings würde er es nicht mehr aushalten. Er mußte sich beeilen. Weshalb eigentlich dachte er dauernd an die Folgen des Raubes, wenn es sich bisher lediglich um einen Raubversuch handelte?

            Mebes öffnete die Tür zum Kassenraum und durchquerte eine Lichtschranke, ohne sich vorzusehen. Es gab in diesem Hause keine funktionierende Alarmanlage mehr, dessen war er sicher.

            Der Tresor hatte ein Zeitschloß, das, wie zu vermuten, auf neun Uhr eingestellt war. Jetzt entschied es sich, ob er sein Handwerk verstand. Egon Olsen knackte die Panzerschränke der Firma Franz Jaeger, Berlin, unter Zuhilfenahme eines Stethoskops. Bei einem Zeitschloß hätte er damit keinen Erfolg gehabt. Die Herstellerfirmen priesen die absolute Sicherheit ihrer Zeitschlösser an. Das mußten sie, wenn sie sie verkaufen wollten. Karl Mebes, der sie selbst hergestellt hatte, wußte, daß es keine absolute Sicherheit gab, jedenfalls nicht vor ihm. Er mußte den Lauf der Uhr elektronisch beschleunigen. Zu diesem Zweck hatte er ein Gerät konstruiert und zusammengebaut, das wechselnde Magnetfelder erzeugte - vor fünf Jahren war das gewesen, und es tat noch heute seinen Dienst, hoffte er. Selbst er kam nur selten dazu, es einzusetzen. Die Polizei hatte die Maschine bei seiner Festnahme nicht beachtet, hielt sie wahrscheinlich für ein Batterie-Ladegerät. Soweit er wußte, war außer ihm (und MacGyver) noch niemand auf den Einfall gekommen. Leider war es unmöglich, sich dieserart Erfindungen patentieren zu lassen.

            Mebes schraubte das Stativ zusammen, bugsierte seine Maschine in die richtige Position, steckte den Stecker in die nächste Steckdose und schaltete das Gerät ein. Er blickte auf sein Piloten-Chronometer. Zwei Uhr. Fünf Minuten für jede Stunde, sieben Stunden bis Neun. Also mußte er fünfunddreißig Minuten warten.

Jetzt eine Zigarette rauchen dürfen! Oder eine Frau ficken - das beruhigt die Nerven.

            Zwei Monate hindurch - Dienst ist Dienst - hatte er enthaltsamer als ein Mönch gelebt, sich nicht mal einen Bordellbesuch gegönnt. Man verquatscht sich so leicht im Bett. Daß sie ihn überhaupt einmal erwischt hatten, lag, wie konnte es anders sein, an einer Frau. An einer Hure. Mebes hatte von seiner schweren und überaus erfolgreichen Arbeit geplaudert. Zum einen, um überhaupt etwas zu sagen, zum anderen in der Annahme, die Thailänderin verstehe eh nur die Hälfte, und schließlich, das konnte er sich heute endlich eingestehen, aus purer Renommiersucht.

Ein idiotischer, absolut unverzeihlicher Fehler, wie er nur Anfängern unterläuft, peinlich für sein Renommee in Fachkreisen, falls es je bekannt werden sollte.

Sie wußte nichts besseres zu tun, als zur Polizei zu rennen, um die günstig zu stimmen für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung. Man erwartete ihn und kassierte ihn auf der Stelle ein. Zum Glück keine gar zu große Sache, schlappe fünfzigtausend Mark, eine dürftige Alarmanlage überbrückt, nicht mal den Magnetfeld-Generator dabei. Nach der Entlassung besorgte er sich eine Waffe, damals einen dreihundertsiebenundfünfziger Trommelrevolver der Python-Serie mit Vier-Zoll-Lauf - er bevorzugte amerikanische Modelle.

Merke: Benutze nie zweimal dieselbe Waffe.

            Die Thai-Hure allerdings fand er trotz fast schon ausschweifender Bordellbesuche nicht wieder. Möglicherweise begegnete er ihr sogar, doch erkannte er sie nicht, obwohl er sich bei der Gerichtsverhandlung bemüht hatte, sich ihr Äußeres einzuprägen - diese Asiatinnen sahen alle gleich aus. Er erwog, irgendeine schlitzäugige Bordsteinschwalbe zusammenzuschlagen, um die verräterische Rasse nicht völlig unbestraft zu lassen, doch ehe er dazu kam, siegte sein Verstand über die kalte Wut. Die Waffe mußte er trotzdem verschwinden lassen, weil sich bei einem Einbruch versehentlich ein Schuß löste. Die Kugel blieb außerhalb seiner Reichweite in einer Decke stecken. Damals war er verschwunden, ohne den Tresor zu öffnen. Polizei und nach der üblichen Indiskretion auch die Presse hatten darüber herumgerätselt, weshalb jemand in die Firma eingedrungen war, nur um in die Decke zu schießen. Man tippte auf eine Warnung in Mafiakreisen und beobachtete den Vorstand fortan. Nicht ohne Erfolg übrigens, wie ein Jahr später die Zeitungen zu berichten wußten: Vorstandsmitglied festgenommen!

            Der Wachmann vor der Tür regte sich, stöhnte, rappelte an der Heizung. Mebes schlenderte hinaus und verpaßte ihm einen weiteren Schlag über den Hinterkopf. Aus Nervosität möglicherweise etwas derber, als erforderlich war. Egal. Beim Arbeiten muß Ruhe herrschen.

            Die Zeit schlich dahin. Während die innere Uhr des Geldschranks

hoffentlich

raste, krochen die Minuten der Realzeit langsamer dahin als die sprichwörtliche Schnecke am Hang. Lustlos durchstöberte Mebes einige Schreibtischfächer. Eines war verschlossen; ohne inneres Engagement brach er es auf und fand, wie erwartet, nichts, was das Mitnehmen gelohnt hätte. Das Wichtigste nämlich besaß er schon seit fast einem Vierteljahr - den Schlüssel zum Panzerschrank. Der Zufall hatte es ihm erspart, ihn sich durch Gewalt besorgen zu müssen.

Das Glück des Tüchtigen! Den Seinen gibt's der Herr beim Pinkeln!

            Der Mann auf dem Klo am Becken neben ihm sah zwar sehr seriös, aber auf den ersten Blick nicht nach sonderlich viel Geld aus, doch Mebes konnte nicht widerstehen, ihm das aus der Tasche hängende Schlüsselbund unauffällig herauszuziehen und auf der Stelle Wachsabdrücke davon herzustellen - man weiß nie, wofür es gut ist. Dann ließ er die Schlüssel neben dem Pinkelbecken fallen und schloß sich in einer Kabine ein. Sekunden später betrat der Herr erneut das Klo, fand zu seiner Erleichterung das Bund und steckte es zufrieden in seine Tasche. Mebes beobachtete ihn auf dem Heimweg in ein Nobelhotel. Daß ein Tresorschlüssel dabei war, hatte er schon beim Anfertigen der Abdrücke bemerkt. Noch am selben Abend machte er ausfindig, welchen Heimatort der Herr ins Gästebuch eingetragen hatte. Eine Woche später wußte er, in welcher Firma er den Tresor finden würde, dessen Schlüssel er besaß.

            Noch fünf Minuten Wartezeit. Nervös lief Mebes auf und ab, versetzte einem Stuhl einen kräftigen Tritt. Das brachte ihn auf den Einfall, ein paar Möbel zu zerschlagen. So etwas hatte er bisher nie getan, jedenfalls nicht grundlos, möglicherweise führte das die Polizei auf eine andere Fährte. Denn er galt den Akten zufolge als versierter Techniker, etwas beschränkt und schwatzhaft, nicht aber gewalttätig. Eher ein auf Abwege geratener Amateur als ein Profi, wozu auch die Tarnung mit seinem gutbürgerlichen Beruf beitrug: Er war Inhaber eines Schlüsseldienstes und führte regelmäßig seine Steuern ab, ohne gar zu viele betriebliche Ausgaben abzusetzen. Wozu auch, sein Hauptjob war ein steuerfreier Beruf. Daß er trotz seines durchaus erfolgreichen Technikstudiums nichts Besseres als Verkäufer im eigenen Laden geworden war, wurmte ihn inzwischen kaum noch.

            Schwungvoll kippte er die beiden Schreibtische um, daß die Monitore der Computer implodierten, brach ein Stuhlbein ab und zerdrosch damit die Laufwerke und Tastaturen. Als nächstes fetzte er die Poster von der Wand, zertrümmerte Rahmen und Glas einer Geschäftsurkunde und zerriß einige der in dem verschlossenen Schreibtischfach gefundenen Dokumente, so gut dies mit behandschuhten Fingern möglich war. Der Blick auf die Uhr stellte ihn endlich zufrieden. Keuchend von der Anstrengung stellte er sich neben den Tresor und lauschte. Zunächst hörte er nur seinen eigenen Atem. Funktionierte sein Gerät nicht mehr? Endlich knackte es. Mebes steckte den Generator in seinen Hebammenkoffer, schob das Stativ zusammen, verstaute es ebenfalls sorgfältig. Erst dann steckte er den selbstgefertigten Schlüssel ins Schloß.

            Der Tresor ließ sich ohne Mühe öffnen. Das Geld war noch gebündelt. Ein Bündel Fünfhundert-DM-Scheine, mehrere Stöße Hunderter und Fünfziger, Massenweise Zwanziger und Zehner. Zwei Bündel Zwanziger steckte er in die Innentaschen seiner Jacke, ansonsten ließ er das Kleingeld liegen. Er zählte die Bündel in einen mitgebrachten Hartplastbeutel hinein. Dreihundertsechzigtausend Mark. Das reichte ein paar Jahre, da er mit niemandem teilen und weder Einkommens- noch Umsatzsteuer dafür zahlen mußte.

            Karl Mebes machte einen Rundgang durch den Raum. Nein, er hatte nichts liegengelassen, nichts vergessen. Vielleicht sollte er noch etwas Kleingeld im Flur verstreuen. Nicht übermütig werden, Karl, es war höchste Zeit, zu verschwinden. Der Wachmann war bewußtlos. Zur Sicherheit schlug Mebes noch einmal zu; je später der aufwachte, desto besser. Den Schlüssel für die Handschellen warf er in den verwüsteten Kassenraum. Dabei entdeckte er, daß sich der Abdruck eines seiner Schuhe deutlich in den Computertrümmern abzeichnete. Mit einem Stuhlbein zerstörte er den Fußabdruck. Wegen der für ihn unsichtbaren und daher nicht zu beseitigenden Spuren baute er darauf, daß die Angestellten am Morgen erst einmal alles zertrampeln würden, ehe sie die Polizei alarmierten. Und ohne verwertbare Spuren kein Beweis!

            Inzwischen war Mebes endlich eingefallen, wie er sich unbeobachtet absetzen konnte. Er würde sich ein Auto besorgen und damit ostwärts verschwinden. Dasselbe Land, und doch ein anderes. So fremd, daß er noch nie dort gewesen war. Es hatte ihn bisher einfach nicht interessiert. Was er in den Zeitungen darüber las, verscheuchte seine Lust auf den Besuch der neuen Bundesländer gründlich. Eines immerhin wußte er mit Sicherheit: Dort boomte das Verbrechen, die demoralisierte Ost-Polizei, ohnehin kein ernstzunehmender Gegner, wurde dessen nicht Herr und hatte gewiß anderes zu tun, als ausgerechnet einem westdeutschen Lohngeldräuber nachzuspüren. Und da er selbst den Gedanken, den Osten zu besuchen, bis vor wenigen Minuten für undenkbar gehalten hatte, würde ihn dort sicherlich niemand vermuten.

            Als Mebes sich zum Hinterausgang begab, hörte er ein Telefon klingeln. Ein Anruf um diese Zeit? Der galt einem der Wachmänner. Verdammt, klappte denn diesmal überhaupt nichts? Der Anrufer würde es wieder versuchen, und wenn niemand an den Apparat ging, würde er vermutlich die Polizei verständigen. Wenn es nicht überhaupt schon der zweite Anruf war. Zu Mebes' Plan gehörte es, die Hintertür sorgfältig zu verschließen und dann mit einem Stemmeisen aufzubrechen.

Tarnung ist das halbe Leben!

Darauf verzichtete er. Er ließ die Tür offen und entfernte sich mit langen Schritten durch die dunkle Nebenstraße. Plötzlich blieb er stehen. Unter den am Straßenrand geparkten Autos entdeckte er einen Trabant. Ein altes, klappriges Gefährt, dessen Besitzer sich über den Diebstahl vielleicht sogar freuen würde - so billig wurde er die Schrottmühle nicht so bald wieder los. Mebes öffnete seinen unergründlichen Hebammenkoffer, entnahm ihm ein Schlüsselbund und probierte an der Fahrertür herum. Bereits der zehnte paßte. Er verstaute sein Gepäck auf dem Boden vor dem Rücksitz und orientierte sich am Armaturenbrett. Wie man ein Auto mit so wenigen Anzeigen fahren konnte, verblüffte ihn. Wo, verdammt noch mal, konnte er ablesen, wie voll der Tank war? Und, ach ja, der Trabant war dem Vernehmen nach ein Zweitakter, besaß also einen Benzinhahn. Nur: an welcher Stelle? Als Mebes ihn (im Unterschied zur Anzeige der Tankfüllung) entdeckte - unter dem Armaturenbrett vor dem Beifahrersitz -, da hatte er zu entscheiden, in welcher Stellung der Hahn geöffnet war. Gedreht war er nach rechts, also legte ihn Mebes nach links um. Wo die Gänge lagen, würde er während der Fahrt feststellen. Die eingekratzten Zeichen waren längst nicht mehr zu entziffern. Ein prüfender Blick über die Straße. Dunkelheit in allen Häusern, wie es sich in einer soliden norddeutschen Stadt für diese Zeit gehörte. Kein Mensch zu sehen. Auch kein Bullenschwein. Mebes steckte nacheinander seine Schlüssel in das Zündschloß. Diesmal hatte er Pech, keiner paßte. Die Eisenacher  oder kam die Pappe aus Zittau? - hatten sich nicht an die internationalen Normen der Schlüsselproduktion gehalten. Mebes mußte die Zündkabel kurzschließen. Das Startgeräusch erschreckte ihn. Er nahm an, daß alle, insbesondere der Besitzer, aus den Betten fallen würden. Weg, nur schnell weg!

            Holpernd und klappernd setzte sich der auf schlaglochübersäten Landstraßen zermürbte Veteran in Bewegung. Mebes wollte hochschalten und bemerkte am Protest des Getriebes, daß er im zweiten oder dritten Gang angefahren war. Einen Augenblick erwog er, statt mit dem Trabant in die Walachei mit einem Mercedes in die Niederlande zu fahren. Nein, der Einfall mit der Ostreise war gut, wenn auch das Auto nichts taugte.

Wie ist der bloß durch den TÜV gekommen? Wild ist der Osten, schwer ist der Beruf!

Erst mal abwarten, was die Bullen herausfanden. Wenn es so wenig wie üblich war, konnte er immer noch zu seinem alten Plan zurückkehren. Mit knatterndem Auspuff fuhr Karl Mebes seinem Schicksal entgegen.

 

 

 

04.00 Uhr

Die Frau lag neben ihm auf dem Teppich, strotzenden Fleisches, in monumentaler Üppigkeit. Er berührte ihre volle Brust. Sie schien es nicht zu spüren, wandte sich dem anderen Mann zu, der neben ihr lag, einem gesichtslosen Athleten. Seine Hand fiel auf den Teppich. Er stützte sich hoch und sah, wie sie sich auf den Athleten wälzte. Merkst du nicht, daß er kein Gesicht hat, wollte er fragen. Keinen Ton bekam er heraus. Nicht mal einen Blick hatte sie für ihn übrig, war völlig bei der Sache. Er stöhnte, preßte, um Worte hervorzubringen, und endlich, endlich löste sich wenigstens ein Schrei.

            Joseph Pawlowski erwachte. Er lag allein in seinem Bett. Wieder einmal hatte er nur geträumt von einer Frau. Der Traum hatte ihn erregt, er berührte sein steifes Glied und bog es zur Seite, bis es schmerzte. Die Frau - das war natürlich Doris, und der gesichtslose Athlet symbolisierte ihren neuen Liebhaber, mit dem sie ihn ein halbes Jahr lang betrogen hatte, ehe sie sich endgültig für den Kerl entschied. Fast ein Vierteljahr war das her, und seitdem hatte Pawlowski mit keiner Frau geschlafen - in den Monaten davor übrigens auch nur selten. Er hätte nicht geglaubt, daß sich die Entzugserscheinungen so schnell und so schmerzlich bemerkbar machen würden. Sexualträume fast in jeder Nacht. Sollte ein Mann von einundvierzig Jahren, Geschäftsführer eines nicht gar zu kleinen, fast schon mittelständischen Unternehmens, nicht ohne jeden Erfolg in einer ungewöhnlich schwierig zu bewältigenden Periode, sich nicht um anderes sorgen? Nun, das tat er ja wohl auch, nur die Nächte waren schwer zu durchstehen (oder zu durchliegen).

            Die Frau aus dem Traum übrigens, die er für Doris, das dumme Ding, hielt, ähnelte ihr gar nicht. In ihrer wohlproportionierten Fleischlichkeit erinnerte sie ihn an Gisela, seine geschiedene Frau. Vor fast fünf Jahren hatte er sie verlassen, kurz vor der Wende, und jetzt begann er, von ihr zu träumen. Was ist los mit dir? Ist das die Midlife Crisis, von der du gestern abend gelesen hast?

            Joseph Pawlowski schaltete die Nachttischlampe an und hob das vor dem Einschlafen auf den Fußboden geworfene Taschenbuch hoch. Gail Sheehy, In der Mitte des Lebens. Er klappte es auf, rieb sich die Augen, blätterte herum, ohne etwas Bestimmtes zu suchen.

Der Verlust der Jugend, das Nachlassen der körperlichen Kräfte, die wir stets als etwas Selbstverständliches genommen haben, die nun als hohl erkannten stereotypen Rollen, mit denen wir uns bisher identifiziert haben, das geistige Dilemma, keine absolut gültigen Antworten parat zu haben...

            Und was ist mit der Einmaligkeit des Menschen, wenn das, was er für seine ureigenste Problematik hielt, viele, wenn nicht alle betraf? Sind denn unsere Schicksale austauschbar?

Die meisten Männer reagieren, indem sie stärker auf das Karrieregas drücken. Es ist ihre "letzte Chance", die Meute abzuhängen... Der Mann will nun an die Spitze der Geschäftsleitung...

            Das war bereits mit Siebenunddreißig vollbracht, und was noch wichtiger war: Er hatte in der Umbruchzeit, da die bisherigen Leiter massenweise ins Nichts purzelten, seine Stellung behaupten und ausbauen können. Vom Direktor eines volkseigenen Betriebes (also vom machtlosen Angestellten des Staates) war er zum Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung avanciert, einer relativ erfolgreichen GmbH, die Treuhand hatte sie aus ihrem Würgegriff entlassen. Ein echter Juppie-Unternehmer, made in East. Weshalb war er trotzdem so unzufrieden? Nur weil ihm die Liebe fehlte?

Welche Sprosse er auf dem Weg nach oben auch erklommen haben mag, der Mann mit Vierzig fühlt sich gewöhnlich verbraucht, unruhig, überlastet und nicht, wie er es verdient zu haben glaubt, geschätzt. Er sorgt sich um seine Gesundheit. Er fragt sich: "War das alles?" Er kann mehrmals versuchen, feste Grundsätze und Positionen, darunter die eigene Ehe, aufzugeben...

            Am schlimmsten war die Austauschbarkeit. Es demütigte ihn, daß es ihm kein bißchen anders erging als den anderen Männern um ihn herum, denen man das freilich nicht anmerkte, so wie man es ihm, hoffte er, ebenfalls nicht anmerkte.

Ein schlaffes Glied jagt ihm in den mittleren Jahren panische Angst ein.

            Darüber konnte er im Augenblick nicht klagen; trotz seiner Grübeleien blieb es steif. Er hatte nur niemanden als sich selber, es zu entspannen, und hielt Onanie (auf die völlig zu verzichten ihm unmöglich war) in seinem Alter und seiner Position fast für demütigender als das Versagen bei einer Frau. Letzteres war natürlich geschehen zuweilen - irgendwann erregte ihn Doris trotz ihrer Jugend kaum noch.

Er, dessen sexuelles Potential nun nachläßt, hat das Gefühl, gleichaltrige, neugierige Frauen wüßten zuviel und erwarteten von ihm zuviel. Die naheliegendste Abwehr ist der Versuch, die Frau zu verniedlichen...

            Pawlowski ließ das Buch zu Boden fallen und starrte auf die Risse im Deckenputz. Eine häßliche, kleine, verwohnte Bude, unwürdig eines Managers. Aber Betriebswohnungen gab es nicht mehr, eine Sozialwohnung stand ihm nicht zu, und der freie Markt operierte mit Preisen, die selbst einem erfolgreichen Manager unangemessen erschienen. Bereits für diese Absteige mußte er fast fünfhundert Mark hinblättern. Kalt. Monat für Monat. Er schaltete das Licht aus.

            Eine Frau verniedlichen - das konnte heißen, sie zum lieben Puttchen zu degradieren oder sich eine jüngere, dümmere zu suchen. Letzteres hatte er vor fünf Jahren getan. Wenn er jetzt von einer Gleichaltrigen zu träumen begann, hieß das etwa, er sei dabei, die Midlife Crisis zu überwinden? Natürlich nur psychisch, denn in der Wirklichkeit hatte sich absolut nichts geändert. Die Sprache verrät das Denken. Es hatte sich nicht geändert? Von allein kam nichts. Er mußte etwas ändern. Gleich morgen würde er Gisela anrufen.

            Joseph Pawlowski war nicht unzufrieden über seine wiedererwachte Tatkraft. Das Leben in die eigenen Hände nehmen

und das Glied in fremde Hände nehmen lassen

lag im Trend der neuen Zeit im aus dem verordneten Dornröschenschlaf erwachten östlichen Deutschland.

            Wenn ihm jemand mitgeteilt hätte, daß sich der scheinbar folgerichtige Entschluß als der verhängnisvollste seines Lebens erweisen würde, er hätte ihn ausgelacht.

 

 

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