Auszug:
EINS
1
Noch immer stand das Wasser zu hoch. Unmöglich, die Stege aufzulegen.
Karl Baerwald, Leiter des Objektes »Müggelsee II« der
Sportstättenverwaltung Berlin, starrte beleidigt die gerade aufgegangene
Sonne an; er wünschte, sie hätte mehr Kraft, den Wasserstand
durch Verdunstung zu senken, und bedachte nicht, daß sie dann
noch mehr Schnee als jetzt die Gebirgsbäche hinabschicken würde.
Baerwald war ein großer, bulliger Mann von fünfzig Jahren.
Er trug einen braunen Trainingsanzug mit rotgelben Längsstreifen,
der seinen massigen Leib umschlotterte, dazu billige Turnschuhe - aus
Gewohnheit; mit dem Sporttreiben war es ein- für allemal vorbei
nach jenem Unfall, der sein Leben verändert hatte.
Als die Augen tränten, wandte sich Baerwald um. Er lief den Betonweg
uferaufwärts. Das rechte Bein, das steife, zog er nach, ohne sich
mühen zu müssen - er hatte gelernt, mit seiner Behinderung
auszukommen. Das breite Tor öffnete er nur so weit, daß er
hinausschlüpfen konnte; hinter sich schloß er ab. Er überquerte
den Fahrweg, der die beiden Teile des Objektes voneinander trennte,
den kleinen breitgestreckten am Ufer, der erst durch die Stege zum Quadrat
ergänzt wurde, und den großen Landteil mit den Unterständen.
Staubiger, grauer Sand, ausgetrocknet in diesem Frühjahr, in dem
sich Hochwasser und fehlender Regen seltsam miteinander paarten.
Der Maschendrahtzaun war fast zwei Meter hoch und durch Stacheldraht
gekrönt. Dahinter zog sich, parallel zum Weg, eine zaunhohe Hecke
entlang, Berberitze, immergrün, Baerwalds Stolz. Das derzeit auf
dem Platz herrschende Chaos bemerkte man erst, wenn man direkt vor dem
Tor stand. Die beiden geräumigen Doppelhallen konnten nicht alle
Boote aufnehmen. Yacht stand neben Yacht auf dem betonierten Vorplatz,
plumpe Rümpfe unter grauen Planen.
Baerwald klinkte die Pforte hinter sich ein und wand sich flink zwischen
den verhüllten Schiffen hindurch. Gebell zeigte ihm an, daß
er gehört worden war. Er freute sich schon auf Arco, weil der sich
auf ihn freute: das einzige Wesen auf dieser Welt, dem an ihm lag. Vor
zehn Jahren hatte Baerwald die Leitung des damals neuen Objektes übernommen,
vor sieben Jahren ließ seine Frau sich von ihm scheiden. Seitdem
lebte er allein, wollte man seine sechsjährige Beziehung zu Arco
von der Wasserburg nicht rechnen.
Der Hund sprang, sabbernd vor Begeisterung, gegen den Draht des Zwingers,
sein Herr schloß die Tür auf. Arco zwängte sich hinaus
und begrüßte ihn, indem er sich aufrichtete, seine kräftigen
Vorderpfoten gegen Baerwalds Brust stemmte und versuchte, das Gesicht
zu belecken. Obwohl ihn Baerwald stets abwehrte, gelang es Arco doch
mindestens einmal am Tag, mit seiner breiten Zunge über Wangen,
Mund und Nase zu wischen.
Arco war ein großer, gutgenährter Rottweiler, der, abgesehen
vom stieren Blick, den Vorschriften für die Zucht von Rassehunden
entsprach: stämmig, gedrungen, schwarz, mit dunkelbraunen Abzeichen
an Backen, Fang, Brust und Läufen. Seine Schulterhöhe betrug
fast siebzig Zentimeter; wenn er sich aufrichtete, konnte er seinem
keinesfalls kleinen Herrn ins Gesicht blicken.
Nach der innigen Begrüßung rannte Arco mit weiten Sätzen
davon. Baerwald, der ohnehin nicht hätte Schritt halten können,
folgte ihm langsam auf seinem allmorgendlichen Kontrollgang. Später
wärmte er in der Küche der Saisonverkaufsstelle tiefgefrorenes
Fleisch auf und brühte sich einen Kaffee. Als er den gefüllten
Futternapf in den Zwinger schaffte, stand Arco schon bereit. Sein Herr
ließ die Tür offen. Aus einer Plastetüte zog er seine
Brötchen. Es war Ehrensache für ihn, gemeinsam mit Arco zu
frühstücken. Sie kauten im Gleichtakt, und Baerwald dachte,
daß ihm das Leben zuweilen sehr schöne Momente bescherte.
2
Nach dem Fressen kam Arco aus dem Zwinger heraus und lagerte sich zu
Baerwalds Füßen. Der Objektleiter blieb auf seiner Bank und
unterrichtete den Hund von seinen Problemen. Arco hörte voller
Andacht zu. Als er knurrte, wußte Baerwald sofort, daß dies
kein Kommentar zu seinen Reden war. Das Motorgeräusch hatte er
überhört, verstrickt in die eigenen Ausführungen über
Ereignisse, die seiner Scheidung vorangegangen waren und von denen er
jetzt erst erfahren hatte. Am Türklappen erkannte er, daß
ein Lada vorgefahren war, also einer der bessergestellten Bootsbesitzer
kam. Es dauerte lange, bis der Besucher um die Ecke der Halle bog.
Es war ein großer, schlanker Endvierziger mit graumeliertem Haar
und silbergerahmter Brille, zu fein gekleidet für den Bootsplatz
mit seinem Anzug, dachte Baerwald; der Mann wollte wohl nur mal nach
dem Rechten sehen. Der Objektleiter kannte ihn, so wie er alle Großbootsbesitzer
kannte. Dies war ein Arzt, der vor drei Jahren einem Kraftfahrzeugmeister
eine Yacht abgekauft hatte - als Nachfolger einer Frau, die ermordet
worden war. Gern hätte Baerwald Genaueres über die unglaubliche
Geschichte erfahren, doch war Doktor Claassen leider nicht mitteilsam.
»Morgen«, grüßte Claassen knapp. »Muß
der Hund von Baskerville frei herumlaufen?«
Wehmütig betrachtete Baerwald seinen friedlich daliegenden Hund,
der wieder einmal verkannt wurde. Er veranlaßte ihn zum Aufstehen
und bugsierte ihn in seinen Zwinger. Dann erst wandte er sich dem Arzt
zu und erwiderte dessen Gruß.
»Wann werden denn endlich die Stege aufgelegt?« fragte Claassen
aggressiv.
»Wenn das Wasser gesunken ist.«
»Ich bitte Sie! Seit Wochen hat es nicht geregnet!«
»Das Wasser kommt aus den Bergen.«
»Aus den Müggelbergen, was?«
»Na, Sie haben es doch gut, Herr Doktor. Die Yacht liegt draußen,
Sie kommen mühelos heran.«
»Mühelos!« sagte Claassen ironisch. »Zwanzig
Kutter umdrängen meine Yacht. Man kann kaum treten. Sehen Sie es
sich mal an!«
»Ich weiß, wie es vorn aussieht«, brummelte Baerwald,
folgte jedoch dem Arzt, als der energischen Schritts davonging.
»Sehen Sie? Sehen Sie?« fragte Claassen erregt.
»Ja«, erwiderte Baerwald trocken. »Sie können
rundherum laufen, ohne anzustoßen - wenn selbst ich durchpasse.«
»Ich bitte Sie, Herr, äh... Hier kann man doch nicht arbeiten!«
»Was wollen Sie denn machen?«
»Die Farbe abschmirgeln und dann lackieren.«
»Dem steht nichts im Wege!« behauptete Baerwald.
Ein Mann trat zu ihnen und gab beiden die Hand.
»Tach, Herr Heinke.« Baerwald war erfreut über die
Unterbrechung des unangenehmen Dialogs.
Paul Heinke war nicht jünger als der Arzt, und das konnte er auch
nicht verbergen, wenngleich er sich um jugendgemäße Aufmachung
bemühte, das heißt, sich so frisierte und kleidete, wie es
zu der Zeit, als er jung gewesen war, der Mode entsprach. Er trug einen
rötlichbraunen Vollbart und hatte lange, dunkelblonde Haare. Für
Arbeiten am Boot war er angemessener gekleidet als der Arzt: Turnschuhe,
weißgraue, an Knien und Schritt geflickte Jeans, ein T-Shirt mit
den breitgezerrten Köpfen der Beatles über dem leicht gewölbten
Bauch, darüber eine ausgewaschene Jeansjacke. Er war Physiker,
Doktor der Physik, wußte Baerwald; auf die Idee, ihn »Herr
Doktor« anzureden, wäre der Platzwart nicht gekommen; dieser
Titel blieb Ärzten vorbehalten.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, daß unsere Werktätigen
noch immer heldenhaft gegen das Hochwasser kämpfen«, sagte
Heinke. »Aber ich muß heute anfangen.«
»Das wird schwierig«, erwiderte Baerwald. »Die Halle
ist voll.«
»Es gibt Werktätige, die kämpfen, und andere, die sich
derweil ausruhen«, sagte Claassen.
»Wenn Sie mich meinen«, versetzte Baerwald, »ich mache
meine Arbeit. Zehn Stunden am Tag oder mehr, wenn es nötig ist.«
»Ja, die Hecke schneiden! Können Sie mir definitiv sagen,
wann Sie die Stege auflegen?«
»Das Wasser muß noch um zehn Zentimeter sinken...«
Das geräuschvolle Zuschmettern zweier Wartburgtüren hatten
sie nicht beachtet. Erst als die beiden Neuankömmlinge zu ihnen
traten, wurde das Gespräch für einen Moment unterbrochen.
Ein kräftiger, vital wirkender Mann, dem Aussehen nach Mitte Vierzig,
und ein etwas jüngerer, glattgesichtiger langer Kerl, den Friedrich
Wilhelm I. ohne Bedenken rekrutiert hätte, schüttelten reihum
die Hände.
»Man hört Euch bis zum Fahrweg«, sagte der Vitale.
»Gibt es Probleme?«
»Allerdings!« sagte Dr. Claassen. »Hier geht es nicht
voran! Ich glaube nicht, nein, stärker, ich lehne es ab zu glauben,
daß es bei so schönem Wetter unmöglich sein soll, die
Boote zu Wasser zu bringen. Und wenn die Wellen den Steg überspülen,
ist das immer noch besser, als die Boote auf dem Platz vertrocknen zu
lassen.«
»Nun, da gibt es immerhin Vorschriften.« Heinke wollte vermitteln.
»Vorschriften!« unterbrach Claassen. »Wozu sind die
gut, wenn sie den Interessen der Menschen zuwiderlaufen!«
»Das kann man sich in anderen Bereichen mit weitaus größerem
Recht fragen«, hielt der Vitale mit leisem Lächeln dagegen.
»Na ja«, der Doktor schnaufte, belustigt über sich
selbst, »stimmt schon. Ich weiß natürlich, Herr, äh...«
».. .Baerwald«, half der Vitale.
».. .Herr Baerwald, daß Sie weder für das Wetter noch
für die Vorschriften verantwortlich sind«, vollendete Claassen.
»Na prima«, sagte der Vitale. »Da nun der Frieden
wieder hergestellt ist, kann ich gleich mit meinem Anliegen kommen.
Ich brauche eure starken Arme. Ich werde nämlich mein Schlachtschiff
flottmachen.«
»Unmöglich«, sagte der Objektleiter.
»Das ist ein Fremdwort für mich, Karlchen.« Siegfried
Mashold, Direktor für Technik in einem Chemiekombinat, sah Baerwald
mit ungespielter Belustigung an. »Es geht alles, wenn man nur
will. Und ich will!«
»Die Halle ist voll«, widersprach Baerwald lahm.
»Dann leeren wir sie einfach. Wir sind fünf kräftige
Männer, meine Yacht steht nahe am Eingang. Wir setzen einsfixdrei
ein paar Boote beiseite, schaffen hier einen Durchgang...«
»Wir können nicht abslippen ohne Kran«, unterbrach
Baerwald, »und die Stege...«
»Weiß ich. Ich will der Yacht heute auch nicht mit Wasser,
sondern mit Feuer kommen.«
»Den Lack abbrennen? Unmöglich!«
»Muß ich mich wiederholen, Karlchen?«
»Sagen Sie nicht immer Karlchen.«
»Na gut, aber wir waren schon beim Du. Es wird nicht viele Direktoren
geben, mit denen du dich duzt, was? Duzt du dich mit unserm Platzwart,
Rainer?« wandte sich Mashold an seinen langen Begleiter.
Rainer Gerlach schüttelte den Kopf.
»Haben Sie was anderes zum Anziehen dabei, Doktor?« wandte
sich Mashold an Claassen. »Die Yacht hat über Winter gewiß
Staub angesetzt. Oder hast du ihn abgewischt, Karl? Na, dann ziehen
Sie sich mal um, Doktor, wenn Sie so freundlich sein wollen. Es geht
gleich los.«
»Herr Mashold - Siegfried«, korrigierte sich Baerwald, »du
kannst nicht mit Feuer hantieren, die Boote stehen zu dicht.«
»Dann gehen wir neben die Halle«, entschied Mashold.
Von Mashold geführt, sahen sie an, was sie zu tun haben würden,
und selbst Baerwald mußte zugeben, daß sie es schaffen konnten.
Dem Transport stand nichts weiter im Wege, als daß fünf Männer
nur unter Aufbietung aller Kräfte in der Lage sein würden,
das Kajütboot anzuheben, und natürlich trauten sie sich die
notwendige Stärke zu.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Gerlach bereitete Mashold den Transport
vor, während Claassen sich tatsächlich umzog - er hatte seine
Arbeitskleidung im Auto zu liegen. Baerwald und Heinke schafften in
der Nachbarhalle durch Beiseiteschieben einer Jolle Platz für die
Arbeit an Heinkes Jollenkreuzer. Nach zehn Minuten rief Mashold seine
Mannschaft zusammen.
Zunächst mußten sie ein anderes Boot auf einen Wagen heben,
den sie vor der Halle abstellen wollten. Die Aktion wäre beinahe
gescheitert, weil sie zwar das Anheben schafften, aber keine Hand freihatten,
die Böcke wegzunehmen. Das Beiseitetreten funktionierte nicht,
der Bock verschob sich, so daß sie ihre Last nicht einmal mehr
absetzen konnten. Sie taumelten. Mashold war schon bereit, den Begriff
»unmöglich« in seinen Wortschatz aufzunehmen, als vier
Hände zupackten und die schwankende Last stabilisierten.
Mashold konnte die unerwarteten Helfer nicht erkennen, weil sein Gesicht
an den hölzernen Boden des Kreuzers gepreßt war, doch verriet
ihm ein zur Seite geschielter, kurzer Blick, daß eine Frau dabei
war.
»Mädelchen«, stieß er keuchend hervor, »nimm
die Böcke weg.«
Das Mädelchen, eine Enddreißigerin, horchte auf, tat aber
schweigend, was von ihr erwartet wurde.
»Und jetzt den Wagen drunter!« wies Mashold an.
Sie rollten den Kreuzer aus der Halle und stellten ihn neben dem Tor
ab. Nun erst war Gelegenheit, die Neuankömmlinge zu betrachten.
»Irene!« sagte Mashold erfreut.
Sie nickte flüchtig und wandte sich Heinke zu, den sie mit Handschlag
begrüßte. Mashold lächelte und ging zu dem jungen Mann,
der mit ihr gekommen war; auf höchstens Dreißig schätzte
er ihn. Ein kindlich hübsches Gesicht, das auch durch den gepflegten
Schnurrbart kaum männlicher wirkte.
»Mashold«, stellte sich der Direktor vor.
»Schefer.« Sie gaben sich die Hände.
»Hallo, Uwe«, sagte Baerwald.
Mashold teilte Irene und ihrem Begleiter mit, was er plante, und wie
es sich auf einem Bootsplatz gehört, faßten sie zu. Sie setzten
die Yacht auf einen hölzernen Wagen mit Gummirädern, schoben
das Gefährt ins Freie und zwängten es an den großen
Booten auf dem Vorplatz vorbei. Auf dem Sandstreifen neben der Halle
kamen sie trotz der Gummiräder kaum vorwärts, doch bestand
ja keine Notwendigkeit, weit zu fahren. Zu sechst hoben sie die Yacht
an. Irene stellte einen der von Mashold bereitgelegten Böcke darunter,
zog den Wagen beiseite und stellten den zweiten Bock auf.
Ehe sie den anfangs beiseite gestellten Jollenkreuzer wieder in die
Halle zurückschafften, verschnauften die Männer. Schefer bemühte
sich, seine helle Leinenkleidung mittels eines Taschentuchs zu reinigen,
doch war der erzielte Effekt nicht nennenswert.
»Tut mir leid«, sagte Mashold.
»Ach, macht nichts.« Schefer steckte das Taschentuch ein.
»Sind Sie der Mashold, der mit meinem Vater zusammen studiert
hat? Siegfried Mashold?«
»Wie war gleich dein Name?«
»Schefer, mit e.«
»Schefer? Das ist schon so lange her, ich kann mich nicht erinnern,
tut mir leid.«
»Was sind denn das für Böcke?« fragte Baerwald.
»Sie lagen hier herum«, erwiderte der Direktor.
»Das sind ausrangierte, morsche Böcke«, warnte der
Objektleiter. »Hol dir lieber von drin ein paar neue.«
»Ach was. Du siehst doch, daß sie halten, Karlchen. Warum
hast du die bloß ausrangiert? Wir sind doch keine Wegwerfgesellschaft!«
»Na schön, du bist der Direktor«, erwiderte Baerwald
und ließ ein genüßlich gedehntes »Siegfriedchen«
folgen.
3
Arco von der Wasserburg heulte und sprang gegen den Maschendraht seines
Zwingers. Karl Baerwald, der auf dem Regendach über den Freisitzen
der Saisonverkaufsstelle kniete und gerade einen Nagel einschlagen wollte,
beugte sich hinunter und ordnete »Kusch!« an. Arco ließ
sich beim Heulen nicht stören.
Baerwald ließ den Hammer auf den Nagelkopf sausen. Mit wuchtigen
Schlägen trieb er ihn ins Holz. Der zweite Nagel folgte, der dritte.
Ein »Still!« zum Hund. Der vierte, der fünfte Nagel.
»Kusch!« Der sechste.
»Ich dachte. Sie mögen ihren Hund.«
Baerwald beugte sich über den Rand des Daches. Unter ihm stand
Paul Heinke, hastig rauchend und trotz des stabilen Maschendrahtes Abstand
zum Zwinger wahrend.
»Natürlich mag ich ihn.«
»Was hat er denn?«
»Keine Ahnung.«
Der Rauch von Heinkes Zigarette stieg Baerwald in die Nase. Das war
ihm unangenehm, obwohl er selbst rauchte, und er wandte sich seiner
Arbeit zu. Arco heulte und bellte.
»Der ist doch sonst so ruhig.« Heinke ließ nicht locker.
»Vielleicht hat er Hunger.« Baerwald beugte sich wieder
über den Dachrand.
»Hat er heute noch nichts bekommen?«
»Selbstverständlich hat er!« Baerwald seufzte. »Halten
Sie bitte mal die Leiter.« Er legte den Hammer ab, stieg ächzend
hinunter, ging zum Zwinger. Arco drückte seine dicken Pfoten gegen
den Draht.
»Was ist denn los, Jungchen?« fragte der Objektleiter.
Der Hund antwortete in seiner Sprache. Baerwald schien ihn endlich zu
verstehen; er übersetzt: »Der will mir was zeigen.«
Und er öffnete die Tür des Zwingers.
»Legen Sie ihn an die Leine.« Heinke wich zurück, als
der Rottweiler seinen dicken Kopf durch den Türspalt zwängte.
Baerwald hielt ihn am Halsband fest, wobei er seine gesamte Kraft einsetzen
mußte. Er angelte nach der bereithängenden Leine und ließ
sie einschnappen.
Falls Heinke befürchtet hatte, der Hund wolle auf ihn losgehen,
sah er sich getäuscht. Arco beachtete ihn gar nicht, jagte am Zwinger
entlang zur Hinterfront des Hallenkomplexes und zerrte seinen hinkenden
Herrn mit sich. Heinke folgte ihnen.
Als sie um die hintere Hallenecke auf den breiten Seitenstreifen bogen,
sahen sie es sofort, wären am liebsten stehengeblieben. Arco zog
Baerwald erbarmungslos weiter.
Das Boot, welches sie vor noch nicht einmal einer Stunde auf die Holzböcke
gehoben hatten, war heruntergefallen. Und Siegfried Mashold lag unter
seinem Besitz.
Dicht vor ihm blieb Arco endlich stehen, bellte, dann heulte er wieder.
Schnaufend standen die beiden Männer da, wußten nicht, was
sie tun sollten.
»Wir müssen ihn vorholen«, regte Baerwald an. Heinke
nickte, bückte sich, um an der unter der Yacht hervorragenden Hand
zu ziehen, scheute dann aber die Berührung. Zögernd richtete
er sich wieder auf.
»Das Boot muß erst weg«, sagte er. »Mashold
klemmt fest.«
»Natürlich!« rief Baerwald eifrig. »Ich hol die
anderen!«
Er zog den widerstrebenden Arco mit sich, rannte die paar Schritte nach
vorn und zur ersten Tür. »Alles rauskommen, schnell!«
rief er in die Halle hinein.
Niemand war in dem Bootsdschungel zu sehen, aber Baerwald wartete keine
Reaktion ab. Er eilte zur Nachbartür.
Die Doppelhalle besaß getrennte Spitzdächer, die erst an
ihrem tiefsten Punkt - vier Meter über dem Boden - in der Mitte
zusammenstießen. Innen war sie ein einziger großer Raum,
nur durch einen Zaun unterteilt, an dem Blechspinde standen. So war
Baerwald auch nebenan gehört worden, doch das hatte er sich nicht
überlegt. An der Tür der Nachbarhalle stieß er mit Gerlach
zusammen, der vor dem Hund zurückzuckte.
»Was ist los?« fragte Claassen von hinten und kam zwischen
den Yachten hervor. Gleichzeitig steckte Schefer seinen Kopf aus der
Tür, an der Baerwald zuerst um Hilfe gerufen hatte.
»Kommen Sie! Schnell!« sagte Baerwald dramatisch, blieb
jedoch stehen. Er band Arcos Leine am Türriegel fest. Der Rottweiler
protestierte, daß es durch den großen Raum hallte. Baerwald
winkte den anderen, ihm zu folgen.
»Mashold liegt drunter«, sagte er, als sie das Boot sahen.
»Los! Anheben!« rief ihnen Heinke entgegen.
Die Männer eilten hinzu, suchten sich geeignete Stellen zum Anpacken,
Gerlach schoß eine herumliegende Axt beiseite, bückte sich.
»Halt!« kommandierte Claassen, der Masholds Handgelenk anhob.
»Wieso!« protestierte Baerwald.
»Ich bin Arzt, wie Sie wissen. Wir können ihm nicht mehr
helfen. Er ist tot.«
»Ihn liegenlassen - das ist pietätlos«, protestierte
nun auch Heinke.
»Hilfe geht vor«, dozierte Dr. Claassen, richtete sich auf
und hob den rechten Zeigefinger, obwohl niemand ihn ansah. »Doch
wenn sie absolut unmöglich ist, darf der Ereignisort bis zum Eintreffen
der Polizei nicht verändert werden.« Er ließ den Zeigefinger
sinken. »Rufen Sie die Polizei an, Herr, äh...«
»Baerwald.«
»Sie haben doch Telefon?«
»Im TZ.«
»Im was?«
»Im Trainingszentrum der Kanuten. Halle I.«
»Wozu Polizei?« fragte Gerlach, der neben Baerwald und Claassen
trat. Schefer und Heinke folgten ihm. »Das war eindeutig ein Unfall.
Die morschen Böcke...«
»Ich bitte Sie, meine Herren!« Der Arzt hob für einen
Augenblick wieder den Zeigefinger; diesmal sahen es alle. »Daß
die Polizei auch Unfälle untersucht, dürfte allgemein bekannt
sein. Wenn nicht aus dem Leben, dann aus dem Fernsehen.«
»Natürlich«, stimmte Gerlach geschwind zu.
In Situationen, die vom Gewohnten abweichen, erweist sich schnell, wer
zum Anführer geboren ist. Nun, da Mashold nicht mehr da war, zeigte
sich, daß auch Dr. Claassen Autorität besaß.
»Also ich gehe dann«, sagte Baerwald.
»Nur zu«, ermunterte ihn Claassen. »Und sperren Sie
Ihre Bestie in den Zwinger - das Geheul ist ja nicht zum Aushalten!«
»Jawohl.« Baerwald hinkte davon.
»Und was machen wir?« fragte Gerlach.
»Na was wohl!«
»Mit Toten habe ich keine Erfahrung. Nur mit Chemietechnik.«
»Wir warten. Ohnehin haben wir alles zertreten, was sich irgend
zertreten ließ - nicht mehr zu ändern, war wohl auch berechtigt
in der Situation, zumindest verständlich. Wir werden in der Nähe
bleiben, damit sich nicht noch jemand an dem da zu schaffen macht«,
er deutete über die Schulter. »Und keine Absprachen. Was
jemand sagt, müssen alle hören können.«
»Bei einem Unfall!« Gerlach mühte sich um einen ironischen
Unterton, doch klang seine Stimme eher unsicher.
»Sie sind wohl Polizeiarzt?« fragte Schefer.
»Gerichtsmediziner, meinen Sie sicher«, korrigierte Claassen.
»Das bin ich keinesfalls, doch bekommt man in meinem Beruf häufiger
mit der Polizei zu tun als... als manch anderer.«
Noch immer heulte der Rottweiler in die Halle hinein, Baerwald war zuerst
zum Telefon gegangen.
»Meine Zigaretten liegen im Auto«, sagte Gerlach.
»Es ist besser, wir bleiben zusammen«, beschied ihn Claassen.
»Nehmen Sie eine von mir«, bot Heinke an. »Falls Sie
Cabinet mögen.«
»Wenn Sie noch eine erübrigen können...« Auch
Schefer griff zu.
Claassen lehnte dankend ab. Und plötzlich fiel ihm auf, daß
jemand fehlte.
»Wo ist eigentlich die Frau?«