1999 Gefährliches Spiel

eku interactive, Berlin 1999

Die Fortsetzung von "Berlin Connection" (2ter Teil) als Kiminalroman Vor zehn Jahren entführten Agenten die Freundin von Roger Penrose und wollten ihn töten. Eine kriminelle Organisation namens "Berlin Connection" zog die Fäden. Im zehnten Jahr nach dem Mauerfall kommt Roger wieder nach Deutschland und muß feststellen, daß die Gespenster der Vergangenheit noch sehr aktiv sind. Sie verhindern seine Aussage vor einem Untersuchungsausschuß, sie bespitzeln und verfolgen ihn. Mehreren Mordanschlägen entkommt er nur durch unsichtbare Helfer. Wer verfolgt ihn? Wer schützt ihn? Und warum das alles? Weiß er etwas, dessen Bedeutung er nicht erkennt? Roger und seine Freundin tauchen unter, aber die Verfolger verfügen über Mittel, von denen er nichts ahnt. Eigentlich will er nur seine Ruhe. Doch die läßt man ihm nicht ... "Gefährliches Spiel" nimmt Figuren und Situationen aus dem Computerspiel "Berlin Connection" auf und setzt die Handlung in der Gegenwart fort. Der Roman ist in sich geschlossen und setzt die Kenntnis des Spiels nicht voraus. Es handelt sich um den ersten Kriminalroman, der nach Motiven eines Computerspiels entstand.

 

Gefährliches Spiel - Buchcover

 

 

Auszug:

1

 

Das Internet war schuld. Und meine Neugier. Daß alles wieder von vorn anfing, und schlimmer als zuvor, habe ich mir selbst eingebrockt. Ich hatte gehofft, keinen von diesen Leuten jemals wiedersehen zu müssen. Mir war klar, daß daraus nichts Gutes entstehen würde. Schon die erste Begegnung hatte ich nur durch ein Wunder überlebt. Ein paar Sekunden langsamer, und eine Bombe hätte mich erwischt. Kurz davor wollte der gräßliche Michalke mich erschießen. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Michalkes Tod verfolgt mich heute noch in meinen Träumen. Dabei ist es schon zehn Jahre her.
Es war am 11. November 1989 in Berlin. Michalke gab sich als Hotelportier aus, und ich ließ ihn in mein Zimmer ein. Sofort richtete er eine Pistole auf mich.
"Her mit die Fotos, aber'n bißken plötzlich!" verlangte er in seinem dreisten Berliner Dialekt, und ich begriff nicht, was das sollte. Ich erkannte ihn nicht einmal sofort; ich sah nur seine Waffe.
Michalke wußte es besser. "Du vastehst mir janz jenau!" behauptete er.
Das hatte mit der Entführung von Katja zu tun, begriff ich endlich. Michalke arbeitete für Jäger, der ebenfalls hinter meinem Film her gewesen war. Was hatte ich nur fotografiert? Touristische Motive und Katja. Es war ein völlig normaler Film mit seltsamen Lichtflecken. Damit konnte nicht mal ich etwas anfangen. Aber Michalke stürzte sich auf die Bilder, die auf dem Tisch lagen. Er war abgelenkt, ich rannte davon. Eigentlich wollte ich nach unten auf die Straße, doch auf der Treppe kamen mir Leute entgegen. Ich war in Panik. Anstatt sie um Hilfe zu bitten, rannte ich in die Gegenrichtung. Die Treppe hinauf bis auf den Boden, eine hölzerne Leiter empor und durch eine Luke aufs Dach. Ich versteckte mich, soweit das auf einem Dach überhaupt möglich ist. Wenig später erschien Michalke. Er führte Selbstgespräche und sah sich nach allen Seiten um, ohne mich zu entdecken. Und immer noch hatte er die Pistole in der Hand. Er meinte es ernst. Wenn er mich entdeckte, würde er ohne Zögern abdrücken. Ich versuchte, nicht zu atmen, ich hörte ihn keuchen und brubbeln, ganz nah war er, "Na warte, du Affenarsch", sagte er, und dann strauchelte er, "o Scheiße", sagte er noch, dann schrie er und ließ die Pistole nicht los und konnte sich nicht halten und fiel vom Dach. Ich gebe zu, daß ich in meinem Schrecken kopflos gehandelt habe. Um die Leiche kümmerte ich mich überhaupt nicht. Ich rannte zurück in mein Zimmer, raffte das Nötigste zusammen und verdrückte mich. Erst am nächsten Tag, als das Schlimmste überstanden war, bin ich zur Westberliner Polizei gegangen. Zunächst glaubte man mir nicht, denn es war kein Toter gefunden worden, und als sie im Hotelhof nicht einmal Blutspuren fanden, mußte ich ein Höchstmaß an Überredungskunst aufbieten, um sie aufs Dach zu locken. Dort gab es dann immerhin Spuren eines Absturzes, was meine Glaubwürdigkeit rehabilitierte. Sonderbar blieb es: kein Blut, keine Leiche, keine Zeugen. Doch der Currywurststand am Potsdamer Platz blieb geschlossen, der Inhaber war verschwunden. Daß die Bude bestenfalls Tarnung war, verrieten die Polizisten mir irgendwann: Michalke stand im Verdacht, ein Spion zu sein. Nur für wen er spionierte, war unbekannt. Vermutlich für alle Seiten, wenn sie ihn bezahlten. Die Beamten einigten sich auf die Version, daß Michalkes Kumpane Leiche und Spuren beseitigt hatten. Im Osten durften sie damals noch nicht wirksam werden, die Ermittlungen wurden eingestellt, und später erfuhr ich, daß er für tot erklärt wurde, ohne daß sie ihn gefunden hatten.
Zehn Jahre später führte Katja mir ihren neuen Computer vor. Welcher Teufel ritt mich, in die Suchmaschine ausgerechnet den Namen Michalke einzugeben, Herrmann Michalke, der Name war eindeutig wegen der unüblichen Schreibweise mit doppeltem R. Meine Recherche war nur eine Laune, ich war sicher, daß sie null Ergebnisse bringen würde, doch das war ein Irrtum:
http://www.tagesspiegel.de/archiv/1999/03/22/michalke_herrmann.html
Ich folgte dem Link ins Archiv des Tagesspiegel und fand unter der Rubrik "Berliner Köpfe" folgenden Artikel:

Totgesagte leben länger

Wie viele Touristen aus aller Herren Länder mögen sich an seinem legendären "Bratwursthimmel" gestärkt haben, damals, direkt an der Mauer, wenige Schritte von der Aussichtsplattform entfernt! Herrmann Michalke, das freundliche Berliner Original vom Potsdamer Platz - eigentlich ein gebürtiger Breslauer -, war sicher einer der meistfotografierten Imbißbudenbesitzer der Welt. Seine Wirkungsstätte inspirierte den Regisseur Wim Wenders zu dessen berühmten Werk über das geteilte Berlin und lieferte den Namen zum Film gleich mit.
Mit dem Fall der Mauer verschwand der Imbiß, und mit ihm Herrmann Michalke. Gleichzeitig kamen Gerüchte in Umlauf, daß der freundliche Bratwurstverkäufer in äußerst unappetitliche Geschäfte verwickelt gewesen sein soll: Von Waffenhandel war die Rede, von Kidnapping, sogar von Mord. Michalke, so hieß es plötzlich, war Mitglied einer kriminellen Ost-West-Organisation, die vor nichts zurückschreckte und mögliche Belastungszeugen skrupellos aus dem Weg räumte. Aber alle Ermittlungen gegen ihn und gegen seine mutmaßlichen Komplizen verliefen im Sande. Nach Michalkes angeblichem Tod - er soll 1989 in Kreuzberg ums Leben gekommen sein - wurde das Verfahren eingestellt. Zurück blieben die Touristenfotos und zwiespältige Erinnerungen an eine schillernde Figur aus der Zeit des Kalten Krieges. Aber seit einiger Zeit kommt der Verschollene wieder ins Gerede: Er sei, so munkelt man, gar nicht tot, sondern halte sich seit Jahren im Ausland versteckt. Mehr noch: Michalke betreibe - mit Hilfe seines alten Kumpels Laurent L. - immer noch das gleiche Geschäft wie früher und habe sogar irgendwo in England, Frankreich oder in den USA wieder eine Art Gaststätte eröffnet, die ihm als logistische Basis für seine dunklen Machenschaften diene. Beweise dafür gibt es allerdings nicht.
Aber Herrmann Michalke ist wieder da, und sei es als Gespenst. Wie heißt es doch so schön: Totgesagte leben länger! G. A.

Es war der leichtfertige Tonfall, der mich aufbrachte. "Das freundliche Berliner Original!" Ich hatte ihn als mordlüsternen Choleriker kennengelernt. Und Wim Wenders läßt sich gewiß nicht durch Currybuden inspirieren; der Film heißt ja auch nicht "Der Bratwursthimmel über Berlin"! Wäre der Artikel sachlicher geschrieben gewesen, hätte ich die Informationen zur Kenntnis genommen und im hintersten Winkel meines Gehirns endgelagert. Doch ich ärgerte mich, Katja war fast noch wütender, und so stiegen wir beide wieder in eine Geschichte ein, von der wir wünschten, daß sie nie passiert wäre. Hätten wir gewußt, was daraus entstehen würde, dann hätten wir den Computer zerschlagen, unsere Koffer gepackt und uns ein halbes Jahr auf einer einsamen Südseeinsel versteckt. Oder ich wäre wenigstens zu meiner Tante nach München gefahren, wie ich eigentlich vorgehabt hatte, doch war sie verreist, teilte mir mein Cousin am Telefon mit, also rief ich am nächsten Tag beim Tagesspiegel an, um den Journalisten G. A. aufzutreiben. Es war Karfreitag, die Redaktion war nicht besetzt. Warum nahm ich das nicht als letzte Warnung von ganz oben, die Finger von der Sache zu lassen? Ich machte weiter, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.



2

Früher war hier ein breiter, kahler Sandstreifen vor der buntbemalten Mauer, zu dem man über eine schmale, gepflasterte Straße lief. Wo hatte "Michalkes Bratwursthimmel" gestanden? Vielleicht auf dem eingezäunten, mit dürrem Unkraut bewachsenen kahlen Baugelände? Oder dort, wo Debis und Sony das errichtet haben, was sie für die Stadt der Zukunft halten? Der Potsdamer Platz, gerade zur Hälfte fertiggestellt, ist immer noch die größte Baustelle Europas. Durch die engen Straßen jagt die Luft dahin wie bei einem Sturm. Die lichtarmen Schluchten erinnern mich an das Neubauzentrum von Boston. Glas und Beton. Wer Natur sehen will, kann ins Imax gehen und auf die Panoramabildwand starren. Die Seitengäßchen wären gänzlich tot, gäbe es nicht die schreibwütigen Politessen, die mit finsteren Gesichtern giftgrüne Zettel ausfüllen und hinter die Scheibenwischer sämtlicher Autos zwängen; jene unbeliebten Botschaften, die in Deutschland seltsamerweise Knöllchen heißen. Die Schellingstraße ist kahl, baumlos, rechteckig, tot. Hat Schelling das verdient, gerade er, der die Architektur als "Musik im Raum" bezeichnete? Der einzige Trost: Es sind nur zweihundert Meter bis zu den Arkaden mit ihren Dutzenden von Geschäften. Und: Wer hätte es verdient, seinen Namen mit einer solchen Straße in Verbindung gebracht zu sehen? Außer dem Architekten selber will mir niemand einfallen.
"Vor fünfzig oder achtzig Jahren ist das Wissen verlorengegangen, in welchem Verhältnis die Fenster zum Rest der Fassade stehen sollten", trieb ich Konversation. "Glasfassaden sehen technisch und kalt aus", ich deutete nach vorn, "Gebäude ohne Fenster", ich zeigte mit dem Daumen über die Schulter, "wirken wie Silos, die protzig großen Fenster links wirken öde und langweilig, und die kleinen auf der anderen Seite sehen lächerlich aus."
"Unser neues Zentrum scheint dir nicht zu gefallen", bemerkte Katja unengagiert.
"Eher nicht", gab ich zu. "Aber es hat auch eine gewisse Faszination. Wir sind in die U-Bahn gestiegen und haben, obwohl wir nur 15 Minuten unterwegs waren, eine Zeitreise gemacht. Keine sonderlich verlockende Perspektive, aber immerhin die Zukunft. Ein Vergnügen für Masochisten. Und das ist heute ja in."
Wir suchten nach einem Platz, an den wir uns setzen konnten. Die Gerichte im "Tony Roma's" - Hähnchenbrust für 23,50 DM! - kamen uns überteuert vor. Wir sehnten uns nach den goldenen Preisen von Michalkes Bratwursthimmel zurück. Gleich nebenan bei McDonalds kamen sie ihnen recht nah, aber so masochistisch war ich nun auch wieder nicht veranlagt. Schließlich setzten wir uns auf die Korbstühle vor dem "Bistro". Das klang, sofern nomen omen war, recht preisgünstig. Als wir die Karte sahen, korrigierten wir unser positives Vorurteil Bistros gegenüber, aber da saßen wir schon, also ließen wir uns Kaffee kommen. Eine Tasse des dünnen Gebräus kostete soviel wie ein Pfund Kaffee im Großhandel. Vielleicht hätte ich einen Tee nehmen sollen, doch den trinke ich im Ausland nur, wenn ich ihn selber zubereite. Außerhalb von England versteht man einfach zu wenig von der Teezubereitung.
Wir sprachen nicht über Preise und Nationalgetränke. Katja hatte ohnehin wenig zu meinen launigen städtebaulichen Betrachtungen beigesteuert, woraus ich mühelos folgerte, daß der ernste Teil des Nachmittags gekommen war. Gestern hatten wir uns entspannt unterhalten, so, wie man eben miteinander plaudert, wenn man sich zehn Jahre nicht gesehen hat. How do you do? I'm fine. Zum Ballett geht sie nur noch als Zuschauerin, aus dem Hobby war kein Beruf geworden, sie hatte etwas Zeitgemäßes studiert, war jetzt Computerdesignerin, ja, sie kam aus, könnte besser sein, reichte gerade. Spät in der Nacht waren wir schlafen gegangen, jeder in einem anderen Zimmer. Vor zehn Jahren waren wir heftig ineinander verliebt gewesen. Auch jetzt prickelte es wieder zwischen uns, eigentlich von der ersten Sekunde an, aber wir waren gehemmt. Manchmal steht einem die Lebenserfahrung im Wege.
Katja war Anfang 30, doch hatte sie sich kaum verändert. Nur die Farbspritzer waren aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie war noch ein wenig blonder als damals. Kennengelernt hatte ich Katja auf der Westseite des Brandenburger Tores. Sie hatte ihre neue Wohnung am Prenzlauer Berg gemalert und erst am Nachmittag des 10. November im Radio gehört, daß die Grenze offen war. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand, sie glaubte es nicht, mußte sofort nachsehen wie Hunderttausende anderer, ging im Menschenstrom über die Bornholmer Brücke, wies ihren blauen Personalausweis vor; der Grenzer murmelte: "Das ist nicht erlaubt", aber er winkte sie durch wie alle anderen, und auf einmal stand sie auf der bunten Seite der Mauer mitten im größten Volksfest, das es je in Berlin gegeben hatte. Wildfremde Menschen umarmten sie, drückten ihr ein Glas in die Hand, schenkten ihr Sekt ein, wenn sie eine Hand frei hatten, weil gerade kein Trabant vorbeikam, auf dessen Dach sie begeistert klopfen konnten. Heute ist der Trabant selten geworden, und er löst mit Sicherheit keine Begeisterung mehr aus. Nicht im Osten und schon gar nicht im Westen. Die Zeiten haben sich geändert.
"Wir müssen darüber sprechen", begann Katja. Es sind fast immer die Frauen, die solche Gespräche verlangen, und es ist meist dieser Satz, mit dem sie beginnen.
"Das müssen wir", bestätigte ich, ohne um Präzisierung zu bitten. Ich wußte nur zu genau, was sie meinte.
"War das damals nichts als ein One-Night-Stand?" kam sie sofort zur Sache.
"Natürlich nicht", sagte ich, und fügte hinzu: "Außerdem waren es fünf Nächte. Eine bei dir, vier in meinem Hotel am Hermannplatz. Ich konnte mich im Osten ja nicht mehr blicken lassen ..."
"Ich kann selbst bis fünf zählen", unterbrach sie mich. "War da mehr? Und wenn mehr zwischen uns war - warum hat es dann zehn Jahre gedauert, bis wir uns wiedergesehen haben?"
Mußte sie das Gespräch ausgerechnet in diesem sterilen Ambiente führen? Es fiel mir schwer, das zu sagen, was ich ihr sagen wollte, doch ich sprach es aus. "Es war Liebe, und ich kann es mir nicht wirklich erklären. Warum hast du mich nie besucht? Ihr durftet doch endlich reisen!"
"Du durftest sowieso reisen und bist auch nicht gekommen!"
"Zu euch habe ich mich nicht getraut, solange die Stasi noch Macht hatte. Immerhin wollte Jäger mich in die Luft sprengen."
"Mich auch, und ich wohnte in der Nähe seines Hauptquartiers. Er hat sich übrigens nie wieder blicken lassen."
"In meinem Land hatte er keine Macht. Warum bist du nicht gekommen? Ich hab dich ein paar Mal eingeladen!"
"Du weißt doch, daß es mit den Terminen nicht geklappt hat, mal konnte ich nicht, mal du. Dann aber bin ich losgefahren, ganz spontan, das war im Sommer 1990. Und du warst nicht da, obwohl in deinem letzten Brief gestanden hatte, daß der nächste Auftrag dich erst wieder im Herbst ins Ausland führt."
Nun war ich tatsächlich verblüfft. "Du hast mich besucht? Warum weiß ich nichts davon? Warum hast du nie ein Wort davon geschrieben?"
"Vorher ging es nicht, es war ein spontaner Entschluß. Und hinterher? Ich kam mir blöd vor ... Und dann warst du nicht mal da! Nein, das war mir zu peinlich."
"Du hast fast gar nicht mehr geschrieben."
"Mein Studium fing an... Und es war so viel Zeit vergangen."
"Wenn ich das gewußt hätte ... Ich war damals Berufsanfänger, ich konnte nicht nein sagen, wenn ein Auftrag kam. Freiberuflicher Fotograf - das ist ein harter Job. Meist bringt er wenig ein. Seit Berlin lief es wie verrückt. Der erste Film war zwar versaut, aber an den nächsten Tagen sind mir ein paar schöne Bilder vom Vereinigungstaumel geglückt. Die wurde ich reißend los, und dann folgte ein Auftrag nach dem anderen. Ich kam kaum nach. Ich wußte doch nicht, daß du kommst! Ich hätte den Termin sausen lassen!"
"Ach, Roger!" sagte Katja.



3

Heutzutage haben Geheimdienste ihre Homepages wie jeder normale User. Hat man erst einmal einen gefunden, findet man alle. Als Brite begann ich natürlich bei den heimischen Diensten - MI 5, MI 6, SAS. Nicht daß ich im Augenblick brennend daran interessiert gewesen wäre; Katja und ich surften herum, weil wir die Spannung nicht aushielten, die zwischen uns bestand. Das Gespräch im "Bistro" hatte nur die Sachverhalte geklärt, nicht die Gefühle. Also setzten wir die Michalke-Forschung fort. Was lag näher als ein Sprung über den Atlantik zur CIA? Meine geheimen Landsleute waren so freundlich, mir das Link zu liefern:
http://www.cia.gov
Ein stolzer Adler auf tiefblauem Grund erschien, daneben sein stilisierter Bruder im Wappen, der so aussah, als stützte er sich auf ein Rednerpult. Die Startseite bietet etliche Links an, darunter eine Kinderseite mit putzigen Vögeln, die treu zur CIA halten, nur daß schwer zu unterscheiden ist, ob es junge Adler oder Spatzen sind. Ein niedlicher Hund auf Wacht für die Demokratie bellt viermal, wenn man den Lautsprecher anklickt. Wir wechselten auf die Seiten für die Erwachsenen. FAQs, häufig gestellte Fragen, ein Klick, und wir sahen, was man schon immer über die CIA wissen wollte. Wie hoch ist das Budget? Sorry, leider geheim. Wie viele Mitarbeiter gibt es? Sorry, leider geheim. Absolut nicht geheim ist hingegen, ob die CIA an Morden beteiligt ist. Keinesfalls, denn das ist ihr durch eine Dienstanweisung ausdrücklich untersagt. Das muß man sich im Original auf der Zunge zergehen lassen:
Does the Central Intelligence Agency engage in assassinations?
No. Executive Order No. 12333 explicitly prohibits the Central Intelligence Agency from engaging, either directly or indirectly, in assassinations. Internal safeguards and the congressional oversight process assure compliance.

"Wer's glaubt, wird Ehrenmitglied der CIA!", sagte Katja, und wir lachten.
"Hollywood könnte dicht machen, wenn das stimmt."
Dann entdeckte ich endlich die Suchmaschine. Mit ihrer Hilfe kann man im Archiv der CIA stöbern. Natürlich ist es nicht das echte Archiv. Man liest das, was sie einen lesen lassen wollen. Frisiertes Material. Suchbegriff Germany. Klima: gemäßigt und maritim; kühl und trübe, feuchte Winter und Sommer, manchmal warme tropische Winde, hohe relative Luftfeuchtigkeit. Aha. Bundeskanzler: Helmut Kohl ...
Katja lachte. "Es scheint sich um ein sehr altes Archiv zu handeln!"
Als nächsten Suchbegriff tippte ich Berlin Connection ein. Und wurde fündig. Berlin Connection ist das Codewort für..., las ich, drückte sofort die rechte Maustaste und orderte "save as".
"Lädst du das etwa?" fragte Katja, plötzlich sehr ernst.
"Was sonst?"
"Bist du verrückt geworden?"
Sie zerrte mir die Maus aus der Hand, klickte auf den DFÜ-Netzwerkmonitor und trennte die Verbindung. Ich war sprachlos.
"Es ist gefährlich, einen Geheimdienst per Internet zu besuchen", erklärte sie. "Während man das belanglose Zeug lädt, das sie einem anbieten, sehen sie sich in deinem Computer um."
"Kann schon sein", gab ich zu, "falls das technisch möglich ist. Steht denn etwas Geheimes auf deiner Festplatte? Und falls ja: Meist du, die CIA interessiert sich dafür?"
"Erstens: Es ist technisch möglich", dozierte Katja. "Zweitens: Es gibt zwei oder drei Texte, von denen ich nicht möchte, daß jemand sie liest. Nicht mal du, und schon gar nicht ein Geheimdienst. Und drittens: Dienste interessieren sich für alles. Unsere Stasi hat sogar Wäscherechnungen archiviert. Eure NSA ist keinen Deut besser."
"Unsere? Ich bin Engländer", erinnerte ich sie. "Aber du hast natürlich recht", lenkte ich ein. "Falls sie wirklich automatische Fangschaltungen besitzen, ist es besser, man geht ihnen aus dem Weg."
"Was ist denn angekommen?" fragte sie und starrte auf den Bildschirm.

Berlin Connection ist das Codewort für eine Organisation, die in den Zeiten des Kalten Krieges von Ost- und Westagenten gegründet wurde. Sie diente nicht dem Interesse der Staaten oder Dienste, sondern einzig denen der Beteiligten. Bekannte Mitglieder sind Arnfried Wolff-Glogowski (alias "Jäger", geboren 1953 in Neubrandenburg), zuletzt Hauptmann im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, derzeit Regionalpolitiker einer postkommunistischen Partei (Party of Democratic Socialism or PDS); Herrmann Michalke (geboren 1941 in Breslau), bis 1964 Leutnant im MfS, seitdem in Westberlin, Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel", wegen Spionageverdacht vor Gericht, Freispruch, 1989 verschollen und für tot erklärt; Laurent Leterrier (geboren 1948 in Reims), ehemals in Berlin tätiger V-Mann des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE (Direction générale de la sécurité extérieur), 1990 ausgemustert (Verdacht der Spionage für KGB und CIA), seitdem in verschiedenen Berufen und verschiedenen Ländern, derzeit mit Green Card in den Vereinigten Staaten, Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel" am Union Square, New York. Der Kopf der weit verzweigten kriminellen Organisation und die weiteren Mitglieder konnten bisher nicht ermittelt werden. 1989 gelang durch die Aktivitäten eines Außenseiters der bisher größte Schlag gegen die Berlin Connection. Der brit...he Foto raf Ro r P n
Transfer interrupted!

"Typisch. An der spannendsten Stelle ist Schluß", sagte ich.
"Das ist doch schon eine ganze Menge", widersprach Katja; es war ihr peinlich, daß sie die Verbindung getrennt hatte. "Wir wissen jetzt", erklärte sie, "daß die CIA sich mit der Berlin Connection befaßt hat. Zweitens: Sie hatten weniger Erfolg dabei als du, denn den größten Schlag haben nicht sie geführt. Und drittens: Wer ist Leterrier?"
"Wolltest du mal Lehrerin werden?"
"Ich bin nur gründlich. Wer ist Leterrier?"
"Dem bin ich nie von nahem begegnet, aber die Polizei hat mir ein Foto von Michalkes dickstem Freund vorgelegt, auf dem ich ihn identifizieren konnte. An dem Morgen, als du Brötchen holen wolltest und entführt wurdest, hat er vor deinem Haus herumgelungert und mich beobachtet. Ich glaube, er hat mich sogar fotografiert. Ein ganz schlimmer Finger, haben sie gesagt, aber der Franzose war ebenso verschwunden wie sein deutscher Kumpan. Sie hatten ihn in Verdacht, Michalkes Leiche beseitigt zu haben."
"Leterrier aus Frankreich. Michalke aus Westberlin, Jäger aus Ostberlin", sagte Katja. "Ich dachte, die Stasi hat mich entführt. Dabei war es eine internationale Bande!"
"Apropos Jäger. Wieso heißt der auf einmal Wolff-Glogowski?"
"Das wußtest du nicht? Na klar, du liest in London sicher keine deutschen Zeitungen. Der Typ wollte in die Politik, aber er ist über seine Vergangenheit gestolpert. Das war diesen Winter. Ich glaube, seine Partei hat ihn rausgeworfen. Das ging durch alle Zeitungen, weil er eine stadtbekannte schillernde Figur ist. Zog als Lebemann durch alle Spielbanken und plauderte sehr gewandt über Menschenrechte. Er soll sogar eine Affäre mit unserer Justizsprecherin gehabt haben. Wurde natürlich dementiert, also ist es wohl wahr."
"Na toll. Ich frage mich, weshalb die CIA nur die drei Leute namentlich kennt, die auch mir begegnet sind. Ich habe alles in meinem Tagebuch notiert. Auf simplem Papier, nicht in einem Computer, geschweige denn online. Wie sind sie in den Besitz meiner Aufzeichnungen gekommen?"
"Die Geburtsdaten hast du sicher nicht gewußt, oder? Wahrscheinlich haben sie ihre Informationen von der deutschen Polizei", versuchte sie, mich zu beruhigen.
"Das sagt mir mein Verstand auch, aber mein Gefühl rebelliert dagegen. Ich fürchte, die CIA interessiert sich nicht nur für die Berlin Connection, sondern auch für mich!"
"Ach, Roger!" sagte Katja.



4

Einen so mißtrauischen Menschen wie Gert Arnold habe ich selten getroffen. Er ist freier Journalist und hat den kleinen Artikel über Michalke geschrieben, den ich im Internet-Archiv des Tagesspiegel entdeckte. Wir saßen in einer kleinen Kreuzberger Kneipe beim Bier, doch über seine Quellen mochte er mir nichts verraten. Wenn die Presse ihre Informanten nicht schützt, werde es bald keine interessanten Informationen mehr geben, sagte er. Und es handle sich bei der Nachricht vom Überleben Michalkes um ein Gerücht, jedoch kein völlig unbegründetes. Weshalb ich denn so sehr daran interessiert sei. Ein Bratwursthändler wollte Sie erschießen? Ach, tatsächlich? Und dabei ist er vom Dach gestürzt? Klingt sehr wahrscheinlich. War das Maschinengewehr zu schwer und hat ihn in die Tiefe gezogen? So, nur eine Pistole! Naja, einem schwächlichen Menschen wird selbst eine Flaumfeder zur drückenden Last.
Um die Kette seiner Witzeleien zu zerreißen, gab ich ihm zwei eng beschriebene Blätter. "Die ganze Geschichte in Kurzfassung", sagte ich. "Notiert für den Untersuchungsausschuß gegen die Berlin Connection."
Arnold nahm das Papier und überflog es.

Aussage zur
Berlin Connection
Von Roger Penrose

Am 10. November 1989 fuhr ich im Auftrag des "Geographic Journal" in meiner Eigenschaft als freiberuflicher Fotograf nach Berlin (West), um einige Sehenswürdigkeiten zu fotografieren. Der Auftrag hatte mit der Grenzöffnung nichts zu tun, wurde aber dadurch beeinflußt.
Neben "Michalkes Bratwursthimmel", einem Imbißwagen an der Mauer zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, fotografierte ich eine Katze. Diese saß auf einer verschlossenen hölzernen Kiste neben einem knapp halbmeterhohen, runden Blechbehälter von etwa 30 Zentimeter Durchmesser. Solche Büchsen wurden, wie ich später herausfand, in Rußland zum Transport von Filmen benutzt. In dieser Büchse befand sich mit Sicherheit kein Film, denn er strahlte radioaktiv, was dazu führte, daß der Film in meinem Fotoapparat beschädigt wurde. Die Fotos habe ich vor einem halben Jahr dem Untersuchungsausschuß übergeben. Der Behälter ist nicht mehr darauf zu sehen.
Im Verlauf des Tages lernte ich die Ostberlinerin Katja Damm kennen und besuchte sie in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg. Am nächsten Morgen wurde sie beim Brötchenholen entführt. Einen der Entführer identifizierte sie später anhand von Fotos als Laurent Leterrier, einen französischen Mehrfachagenten. Der andere ist ihr unbekannt; auf Grund seines leichten Akzents hielt sie ihn für einen Russen. Er konnte sich fließend mit Leterrier in dessen Muttersprache verständigen.
Ich erhielt in der Wohnung von Katja Damm einen Anruf, in dem mir bedeutet wurde, wenn ich sie lebend wiedersehen wolle, solle ich zur Aussichtskuppel des Ostberliner Fernsehturms kommen. Dort erwartete mich ein Herr, der sich als Jäger vorstellte, Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Es war, wie inzwischen allgemein bekannt, Hauptmann Arnfried Wolff-Glogowski. Er verlangte meinen Fotoapparat. Ich trug ihn in einer Tasche, die ich bei mir führte, so daß er ihn nicht sehen konnte, und behauptete, daß ich gar keinen Fotoapparat besitze. Er fiel nicht darauf herein und stellte mich relativ unverblümt vor die Alternative, die er am Telefon schon angedeutet hatte: Ich solle ihm meine Fotos und den Film übergeben, anderenfalls könne Fräulein Damm etwas zustoßen. Er brachte mich in einem Wartburg mit livriertem Chauffeur zum Checkpoint Charlie. Nun war ich natürlich neugierig, was ich fotografiert hatte; meines Wissens war nichts von Interesse für die Staatssicherheit dabei. Ich ließ den Film in einem kleinen Fotoladen nahe meinem Hotel am Hermannplatz entwickeln. Ich bemerkte die Lichtflecken und konnte sie mir nicht erklären. Wie ein Materialfehler sahen sie nicht aus. Erst die spätere polizeiliche Analyse klärte mich darüber auf, daß es sich um Strahlenschäden handelte. Während ich über den Bildern grübelte, drang Herrmann Michalke, der Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel", mit einer Pistole in mein Hotelzimmer ein und verlangte die Bilder. Mir gelang die Flucht aus dem Zimmer, ich versteckte mich auf dem Dach, und bei der Suche nach mir stürzte er ab. In Panik verließ ich das Hotel, ohne mich um Michalke zu kümmern. Als ich klarer denken konnte, machte ich mich auf die Suche nach Katja Damm. Mir wurde ein Hinweis von ihren Entführern zugespielt, daß ich sie in der Kanalisation suchen solle. Der Einstieg war übrigens jene vermeintliche Holzkiste, auf der die Katze gesessen hatte. Katze und Blechbüchse waren inzwischen verschwunden. Obwohl ich mir einen Plan der Kanalisation hatte besorgen können, irrte ich durch die dunklen, feuchten, stinkenden Gänge. Ich mußte einen Buchstabencode an einer Tür knacken und gelangte in einen Bunker, in dem Katja Damm sich tatsächlich befand. Sie war geknebelt und an einen Stuhl gefesselt. Im Keller standen auch dutzende von den russischen Filmbüchsen, die jedoch nicht strahlten, wie die Untersuchung von Katja und mir am nächsten Tag ergab. Ich befreite Katja. Über ein dort hängendes Walkie-Talkie nahm ich Kontakt zu den Entführern auf. Der Mann auf der anderen Seite war eindeutig Jäger. Er wies mich darauf hin, daß gleich eine Bombe explodieren würde und ich es leider nicht geschafft hatte. "Das war es dann, Mister Penrose." Ich fand tatsächlich eine Bombe, hütete mich aber vor dem Versuch, sie zu entschärfen, denn davon verstehe ich nichts. Katja hatte inzwischen eine Tür entdeckt, und mit einem Schlüssel, den ich bei mir führte, gelang es mir, das einfache Schloß zu öffnen. Wir rannten davon. Als wir im Freien waren, explodierte die Bombe, eine riesige Staubwolke entstand. Menschen kamen nicht zu Schaden. Im Vereinigungstaumel, der nur ein paar hundert Meter weiter stattfand, fiel die Explosion nicht einmal auf.
Am nächsten Tag erstattete ich Anzeige bei der Polizei. Die Leiche von Michalke wurde nicht gefunden, doch er wurde für tot erklärt. Die Polizei gebrauchte den Begriff "Berlin Connection" und nannte mir als weiteres Mitglied Leterrier. Ihrer Erkenntnis nach befaßte sie sich mit Ost-West-Schmuggel. Die Mitglieder im Osten waren bei der Westberliner Kripo unbekannt, und denen im Westen hatte sich bisher nichts beweisen lassen. Und jetzt war Michalke vermutlich tot, Leterrier hatte sich nach Frankreich abgesetzt. Auf Jäger hatten sie keinen Zugriff. Die Ermittlungen wurden eingestellt ...

Arnold legte die Papiere auf den Tisch, ohne die letzte Sätze zu lesen. "Tolle Story" sagte er. "Ein bißchen nüchtern notiert. Die sollten Sie kräftig ausschmücken!"
"Weshalb haben Sie sich überhaupt mit mir getroffen, wenn Sie mir kein Wort glauben?"
"Um meinen Spaß zu haben. Und ich muß zugeben, daß Sie meine Erwartungen an Ihre Unterhaltsamkeit weit übertreffen."
"Was hat Sie darauf gebracht, daß ich Sie amüsieren könnte?"
"Natürlich Ihr Anruf. Sie haben behauptet, Engländer zu sein, ohne sich die Mühe zu machen, wenigstens das R zu rollen. Sie sprechen besser deutsch als ich, ohne jeden Fehler oder Dialekt."
Ich hielt ihm meinen Reisepaß unter die Nase und sagte: "Ich habe Verwandte in Deutschland."
Der Paß, immerhin, war ein Beweis, also fragte er ohne jeden ironischen Unterton: "Sind Sie Deutschbrite?"
"Das gerade nicht, aber meine Tante hat einen Deutschen geheiratet. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, denn ich war als Kind und Jugendlicher oft hier."
"In Berlin?"
"Erst in Hamburg, dann in München."
Unhörbar ratterte es in seinem Gehirn, ich sah es ihm an, endlich verschwand das ewige Grinsen aus seinem Gesicht. "Lucy Dahrenbeck ist Ihre Tante?" fragte er.
Nun war ich verblüfft. "Sie kennen meine Tante?"
"Nicht persönlich", sagte er. "Aber den Namen kennt jeder. Sie gehört zu den oberen Eintausend. Besitzerin der Südstrom AG. Wenn ich mich recht entsinne, ist sie eine geborene Penrose." Auf einmal war er wie ausgewechselt. "Dann stimmt das etwa alles, was Sie da aufgeschrieben haben?"
"Freut mich, daß meine noblen Verwandten mich glaubwürdiger machen. Natürlich stimmt alles. Michalke starb bei dem Versuch, mich zu ermorden. Das war am 11. November 1989. Einen Sturz vom Dach überlebt niemand."
"Kommt darauf an, wie hoch das Dach ist."
"Die übliche Berliner Traufhöhe. Achtzehn Meter, schätze ich. Oder zwanzig. Wer sagt, daß er noch lebt?"
"Mein Gewährsmann klang ziemlich glaubwürdig, obwohl er ein stadtbekannter Windhund und Spieler ist."
"Jäger?" fragte ich.
Der Journalist nickte. "Arnfried Wolff-Glogowski."
"Er hatte Michalke den Mordauftrag erteilt!"
"Da irren Sie sich. Der Mann war bei der Staatssicherheit der DDR, und das war ganz gewiß ein übler Haufen, aber im Unterschied zu vielen anderen Geheimdiensten in Ost und West gehörte Auftragsmord nicht zu den Spezialitäten."
"Vielleicht hat er den Auftrag ja nicht von Amts wegen erteilt, sondern rein privat - als Mitglied der Berlin Connection ..."
"... deren Existenz bis heute nicht bewiesen ist", unterbrach er mich.
"Immerhin gibt es einen Untersuchungsausschuß des Bundestages."
"Ja, klar", sagte er, aber der Unterton, den er nicht ganz verbergen konnte, klang wie "Politiker reden viel, wenn der Tag lang ist". Er war Lokalreporter, der Ausschuß tagte derzeit noch in Bonn, und die dickste Schlagzeile, die er bisher produziert hatte, war der Hinauswurf seines Vorsitzenden vor einem halben Jahr gewesen; die Gründe dafür waren geheim. Bert Mann von der CDU war durch Siegfried Fugger von der CSU ersetzt worden. Stellvertreter blieb Anwalt Burckhardt Burbach von der SPD.
"Ich bin Zeuge dieses Ausschusses", sagte ich. "Vor einem halben Jahr habe ich Burbach Fotos übergeben, und jetzt bin ich nur wegen der Aussage, die Sie gelesen haben, in Deutschland."
"Burbach? Der Anwalt? Der sitzt im Untersuchungsausschuß?"
Wenn ein bekannter Name ins Spiel kam, wurde Arnold wach. Saß ein Promi im Ausschuß, dann mußte die Berlin Connection existieren. Auf der Stelle witterte er eine bebilderte Story für sich und fragte nach den Fotos.
Die seien leider nicht verwendbar, erklärte ich ihm. Das entscheidende Foto und einige auf dem Film angrenzende seien verstrahlt. Ich hatte etwas Radioaktives fotografiert, ohne es zu wissen, und das sei zwar für den Ausschuß interessant, aber nicht reproduktionsfähig. Im übrigen war ich nicht scharf darauf, interviewt zu werden. Ich wollte etwas von Arnold wissen und lenkte ihn wieder auf seine Quelle, über die er dem Neffen von Lucy Dahrenbeck selbstverständlich detailliert Auskunft gab.
Es war kurz vor Jägers Entlarvung gewesen, als er sich noch allerorten sehen ließ und auch gern gesehen war. Er kam auf jedem Parkett zurecht wie ein echter Mann von Welt. Die Weltläufigkeit hatte er wohl in Spielkasinos gewonnen, wo er oft bis an die eigene Schmerzgrenze hinter dem Erfolg her war. Daß er jedoch in einigen Kasinos wegen Zahlungsunfähigkeit Hausverbot habe, war ein Gerücht; Arnold hatte es überprüft. Spielbanken lebten von Kunden wie ihm, und anschreiben ließen sie prinzipiell nicht, er konnte also nur verspielen, was er mitbrachte. Wie dem auch sei, auf einer bunten Gesellschaft mit regionalpolitischem Hintergrund sei das Gespräch auf Michalke gekommen, den verschollenen Bratwurstkönig.
"Jäger wußte etwas beizusteuern. Unlängst habe er einen alten Bekannten getroffen, der ihm erzählte, daß er Michalke begegnet sei, nein, Irrtum ausgeschlossen, sie kannten sich gut und haben miteinander gesprochen. Michalke sei im Ausland untergetaucht wegen einer dummen Geschichte, die nun längst verjährt sei. Er erwäge die Rückkehr. Tja, Totgesagte leben länger, zitierte Glogowski seinen ehemaligen Generalsekretär. Mehr wußte er auch nicht, aber mir reichte es für den kleinen Artikel."
"Wer hat das Gespräch auf Michalke gebracht?" fragte ich.
"Keine Ahnung. Den Anfang habe ich nicht mitbekommen."
"Wußte Jäger, daß Sie von der Presse sind?"
"Er kennt mich."
"Dann ist alles klar. Michalke selbst hat mit Hilfe seines alten Kumpels Jäger die Nachricht von seinem Überleben lanciert, um die Reaktionen zu testen. Wahrscheinlich will er wirklich nach Deutschland zurückkehren. Wie waren denn die Reaktionen?"
"Auf den Artikel gab es bis heute gar keine. Bei der Gesellschaft erinnerte man sich gern an ihn. Ein echtes Berliner Original eben. Hätten wir abgestimmt, wäre die Mehrheit für Rückkehr gewesen. Ich weiß aber nicht, wie die Justiz es sieht. Wenn der Mordversuch an Ihnen aktenkundig ist, dann ist er mit Sicherheit noch nicht verjährt."
"Er hat mich nicht angefaßt und kam nicht zum Schießen. Er wollte meine Fotos haben. Und das läßt sich als Diebstahl mit Waffe hinstellen. Ich habe im deutschen Strafgesetzbuch nachgesehen. Das verjährt nach zehn Jahren, und die sind fast herum."
"Sie meinen, ich habe mich zu Michalkes Werkzeug machen lassen?"
"Wenn Sie das so sehen wollen ..."
Er wollte es so sehen und war sehr zerknirscht, erzählte ich Katja am Abend. Es war unser letzter, und wir waren noch immer voreinander befangen, also retteten wir uns in Sachdiskussionen.
"Wie ist es möglich, daß er den Sturz überlebt hat?" fragte sie.
"Indem er nicht bis unten gefallen ist. Das ist die einzig mögliche Erklärung. Balkons gibt es dort zwar nicht, aber vielleicht stand ein Fenster offen, und er konnte sich festhalten und irgendwie hineinklettern. Das wäre zwar auch ein Wunder, aber kein so großes wie das Überleben des Aufschlags im Hof. Um sich festzuhalten, mußte er die Pistole fallen lassen. Das hat mich wahrscheinlich gerettet, sonst hätte er mich auf meinem Weg nach unten abgefangen und es noch einmal versucht. Ohne Waffe war er mir nicht gewachsen. Er hat sich versteckt, bis ich verschwunden war, dann hat er seine Pistole aus dem Hof geholt und ist geflohen. Gleich bis ins Ausland, sicher ist sicher."
"Wir sollten doch noch mal bei der CIA nachsehen, vielleicht wissen die mehr."
"Habe ich längst getan", bekannte ich.
"Was? Wann denn?"
"Gleich neulich, als du schon schliefst. Ich wollte den Rest des Textes lesen. Es gab ein überraschendes Ergebnis: Not found. Ich sollte präzisere Angaben machen, belehrte mich die Suchmaschine."
"Du hast hinter meinem Rücken gesurft? Auf meinem Computer? Ach, Roger!"

 

 | Auf offener Straße | Das geomantische Orakel | Unter der Yacht | Der Todesstrudel |Tod in Grau | Der blanke Wahn | Das Netz der Schatten | Die Spitze des Kreises | Eine böse Überraschung | Höllenhunde | Gefährliches Spiel | Die Abrafaxe | Die Gier-Community | Kapitäne sterben um Mitternacht |