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BERLINER PROFILE

Einheitsweise

Der Krimiautor Hartmut Mechtel erweist sich nicht nur in seinen Romanen als Überlebenskünstler, schließlich spielt die Wirklichkeit in seinen Geschichten die größte Rolle

Wer die ehrenwerten Mitglieder des Syndikats nicht kannte, konnte sich den Spaß machen, sie anhand einer bebilderten Broschüre des Syndikat-Vereins unter all den normalen Jeveranern der Fußgängerzone zu identifizieren. Woran erkennt man Krimi-Autoren? Schwer zu sagen, obwohl es in diesem Fall ziemlich einfach war, sie von der einheimischen Bevölkerung zu unterscheiden. Vielleicht weil diese so typisch und die zur Criminale in Jever geladenen Autoren so atypisch aussahen, was immer man darunter versteht.

Das Syndikat, ein seit 1986 bestehender Förderverein für deutschsprachige Kriminalliteratur mit rund 150 Mitgliedern und Sitz in Berlin, lädt jedes Jahr zu einem Treff, der Criminale, ein und verleiht bei dieser Gelegenheit den mit 10.000 Mark dotierten Glauserpreis. Dieses Mal ging er an den Berliner Autor Hartmut Mechtel für seinen Kriminalroman „Der Unsichtbare Zweite". Unauffällig und präsent in der Art von Woody Allens Zelig fiel auch Hartmut in der Fußgängerzone von Jever nicht weiter auf. Er scheint seine Helden zu verkörpern, diese „Standardhelden", wie er sie nennt, „die aufgrund einer gewissen intellektuellen Überlegenheit und Boshaftigkeit überall durchrutschen", obwohl er von sich behauptet, frei von jeder Boshaftigkeit zu sein.

Hartmut Mechtel wurde 1949 in Potsdam geboren, wo er „eine sehr schöne Kindheit und Jugend" verbrachte. Nach dem Abitur volontierte er bei der „Märkischen Volksstimme" und absolvierte seinen Wehrdienst - auch „eine tolle Zeit", hatte er doch den Job eines Hundeführers, der darin bestand, die Diensthunde Gassi zu führen. Von 1970 bis '74 studierte er Journalistik in Leipzig und diente anschließend drei Pflichtjahre bei der Bezirkszeitung von Neubrandenburg „Freie Erde" ab. Am 1. Januar 1978 sagte er der „Freien Erde" Lebewohl, um sich und Frau und Kind als Freischaffender über Wasser zu halten. Er betätigte sich als Literaturkritiker, schrieb Gutachten für Verlage, seine Spezialität Krimis, Abenteuer, Science-fiction. Nach acht Jahren veröffentlichte er seine erste Erzählung. Oder besser gesagt, nach sechsundzwanzig Jahren, denn seine ersten Schreibversuche startete er bereits mit zehn. Ein ehrgeiziges Projekt, das sich der damals jüngste Krimi-Autor Deutschlands vorgenommen hatte: Ein aus sechs Romanen bestehender Zyklus mit einem Serienhelden. Ein Titel der in Schubladen verschwundenen Anfänge hieß „Totentanz ums Goldene Kalb".

Vielleicht sollte man besser sagen, sein Held verkörpert das Lebensgefühl seines Autors, ein Lebensgefühl, das dieser als „kafkaesk" bezeichnet. Und kafkaesk sind auch die Situationen, in denen sich seine Protagonisten wiederfinden. Auf die Frage, ob die Wurzeln dieses Lebensgefühls, dieser ominösen, schwer definierbaren existentiellen Bedrohung im DDR-Staat zu suchen seien, meint Hartmut Mechtel gutgelaunt, es habe sich vor allem nach der Wende entwickelt. Was für ein Alptraum, „mich in das Mahlwerk der bundesrepublikanischen Finanzbürokratie einpassen und für Steuern, Versicherungen und Renten interessieren zu müssen".

Daß seine Charaktere Zweifel an der eigenen Identität hegen, auf Spurensuche gehen – so sucht z. B. der Held in „Der unsichtbare Zweite" nach einer Existenz, die nicht mehr die seine ist – auch das ist ein Gefühl, das jeden einigermaßen sensitiven DDR-Bürger nach der Wende beschlich. „Wir laufen durch dieselben Straßen, die jetzt mit bunter Pappe vollgepflastert und vor zehn Jahren noch grau in grau waren. Alles hat sich verändert. Die Vergangenheit entzieht sich. Und man fragt sich, war es überhaupt wahr?" Sterile Rätselspiele, Experimente im luftleeren Raum sind nicht seine Sache. Ihn interessiert die gesellschaftliche Wirklichkeit, „was Menschen dazu bringt, gewisse Dinge zu tun". Die Unterscheidung zwischen U(nterhaltungs)-Literatur und E(rnster)-Literatur findet er uninteressant. Am Krimi fasziniert ihn, daß das Genre einerseits bestimmten Regeln folgt und andererseits davon lebt, die Konventionen zu verletzen.

Es gibt Zeiten, in denen Hartmut Mechtel für die Außenwelt nicht mehr existiert. Das Telefon ist aus dem Stecker gezogen, die Nacht wird zum Tag. Er gibt sich dann Exzessen hin, die nur durch eine Droge stimuliert werden, das Schreiben selbst. Er schreibt, bis er über seinem Text einschläft, der Rekord war bislang 26 Stunden.

Er hat aber auch noch eine zweite Leidenschaft: das Theater. Er war 1980 mit von der Partie, als „Zinnober", das „erste und lange Zeit einzige freie Theater der DDR" gegründet wurde. Seit 1989 läuft es unter dem Namen „Theater o.N." Dort ist er in dem von ihm konzipierten Stück „Reineke Fuchs" in einer Doppelrolle zu sehen, als König Nobel und als Isegrim. „Man hat mich genötigt mitzuspielen, als Laie auf meine alten Tage, und es stellte sich heraus: Ich kann's."

Uta Goridis (tip 26/97)

 


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