Covermotiv von "Im Namen des Guten"

 

Die Rast

"Ich habe das Gefühl, wir werden verfolgt", sagte Radomski ruhig.
"Der BMW?" fragte Anna, ohne sich umzuwenden.
"Er ist dir also auch aufgefallen!" stellte Radomski sachlich fest. "Warum machst du mich nicht darauf aufmerksam?"
"Das hat mehrere Gründe." Anna Felske lächelte. "Zum einen ist es nicht sicher, daß wir verfolgt werden, und ich sah keinen Anlaß, dich zu beunruhigen. Zum anderen hast du es vorgezogen, mir nicht zu sagen, worum es geht. Weiß ich denn, ob es überhaupt einen Grund gibt, dich zu verfolgen?"
Nun lächelte auch Kurt Radomski. "Du kommst aus der Branche und weißt genau, daß nicht unbedingt ein Grund vorhanden sein muß für eine Verfolgung."
"Wenn du grundlos verfolgt wirst, brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen."
Radomski raste, ohne zu blinken und ohne sich zuvor eingeordnet zu haben, in die auf gleicher Höhe liegende Parkplatzeinfahrt hinein, daß die Reifen quietschten und der Lada nur durch Einsatz von Radomskis Kraft nicht von der Fahrbahn abkam. Der BMW jagte vorbei.
"Na also!" kommentierte Anna und blickte dem weißen Wagen hinterher. Radomski bremste und hielt an.
"Gönnen wir uns fünf Minuten Pause," regte er an.
"Ich finde es unfair, daß du mir so absolut nicht sagst, worum es geht", beschwerte sich Anna. Sie kurbelte das Fenster herunter und entzündete eine Zigarette. "Dein Manöver eben war lebensgefährlich, und wenn du mein Leben riskierst, würde ich schon ganz gern wissen, wofür. Warum hast du mich mitgenommen, wenn du mir nicht vertraust?"
Radomski entzündete ebenfalls eine Zigarette. Er blickte sich auf dem Parkplatz um. Nur zwei Autos außer dem seinen, eines mit einer vierköpfigen Familie, das andere mit einem Rentnerpaar besetzt. Beide vor ihm gekommen, also unverdäch-tig. Da er dennoch nicht ausschließen konnte, daß sein Lada abgehört wurde, schlug er vor, sich die Füße zu vertreten - auch raucht es sich besser im Freien. Sie stiegen aus und liefen schweigend ein paar Runden um das Auto herum.
Kurt Radomski war 1,75 Meter groß, hatte dünnes, leicht graumeliertes Haar, das zu kurz war, um die Stirnglatze kaschieren zu können. Eine randlose Brille kennzeichnete ihn als Intellektuellen, während der neue graublaue Anzug ihn eher wie einen konservativen Manager wirken ließ. Das Jackett, der Sommerhitze wegen geöffnet, gab den Blick auf seinen Bauchansatz frei.
Anna Felske war nur unwesentlich kleiner als er; dank ihres athletischen Körperbaus und der aufrechten Haltung erschien sie neben ihm sogar größer. Sie hatte blondiertes, mittellanges Haar, geschnitten zur Schüttelfrisur, und war durchaus eine Frau, nach der man sich umdreht. Ihres dunklen, aus der Mode geratenen Kostüms wegen sah man ihr die ostdeutsche Herkunft freilich schon von weitem an.
"Du machst es verdammt spannend", sagte Anna und trat ihre Zigarette aus.
"Ich brauche nichts spannend zu machen - die Sache ist von Natur aus spannend genug", erwiderte Radomski. Sie setzten sich auf eine der Parkplatzbän-ke.
"Warum hast du mich mitgenommen?"
"Als Leibwächter."
"Eine Frau als Leibwächter?"
"Mach dich nicht kleiner, als du bist. Du kannst besser zuschlagen und schießen als die meisten Männer. Auf jeden Fall besser als ich. Daß du deine Pistole mitgenommen hast, obwohl ich davon nichts sagte, ist mir nicht entgangen - und Hemmungen, sie einzusetzen, sind dir, soweit ich weiß, fremd."
"Ermittelst du gegen mich, oder ist das deine reizende Art, Komplimente zu machen?"
"Weder noch. Es war eine sachliche Feststellung von Tatsachen, die dir und deiner Ausbildung zum Lobe gereichen."
"Also doch eine Art Kompliment." Wenn Anna lächelte, wirkte sie wie eine Mittdreißigerin, obwohl sie, genau wie Radomski, bereits in den Vierzigern war. "Wollen wir flirten, oder packst du endlich aus?"
"Kann man das eine nicht mit dem anderen verbinden?" Radomski beugte sich über den Tisch und küßte Anna auf den Mund. Überrascht zog sie den Kopf zurück.
"Ich habe", sagte sie, "gar nichts dagegen, mal wieder mit dir ins Bett zu gehen - nur müßte ich zuvor wissen, wie ernst es dir ist."
"Nun, heiraten kann ich dich nicht, wie du weißt. Bigamie ist leider verboten. Nach den alten und nach den neuen Gesetzen."
"Hör auf, herumzuspielen. Was ist los?"
"Wenn du es weißt, lebst du gefährlich."
"Und deine Wahnsinnseinfahrt in den Parkplatz? Wir hätten uns beinahe überschlagen! Gefährlicher kann es kaum werden. Also worum geht es?"
"Um unsere ehemalige Firma", gestand Radomski endlich.
"Das allerdings hatte ich mir denken können, spätestens, als wir nach Pullach fuhren. Ein bißchen genauer müßtest du schon werden."
Er ließ sich fast jeden Satz aus der Nase ziehen. Nach und nach wurde dennoch eine Geschichte daraus. Kurt Radomski, Doktor?Ingenieur für Elektronische Datenverarbeitung, war im September 1989 vom Major zum Oberstleutnant der Staatssicherheit befördert und als Leiter der Abteilung XI, zuständig für das Chiffrierwesen, in seiner Bezirksbehörde eingesetzt worden. Noch ehe er sich eingearbeitet hatte, wurde das Ministerium in ein Amt umgewandelt, welches trotz des neuen Namens unter so massiven Beschuß von allen Seiten geriet, daß die Auflösung beschlossen wurde. Radomski gehörte zum Stab der Auflöser, im Unterschied zu Anna Felske, die sofort entlassen worden war. Bei einer Grobsich-tung von auf Disketten gespeicherten Daten bemerkte er etwas, was dem Beauftragten des Bürgerkomitees, der ihm über die Schulter sah, mangels Kenntnissen entging. Dem geschulten Radomski fiel es leicht, die Diskette vor den Augen des vollbärtigen Bürgerwächters in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Zu Hause konnte er sie auf seinem Personalcomputer in Ruhe betrachten - abgesehen davon, daß die Daten, soweit er sie überhaupt zu verstehen in der Lage war, einen Inhalt hatten, der selbst einen erfahrenen Geheimdienstmitarbeiter wie ihn beunruhigte oder doch zumindest irritierte. War denn seine Dienststelle nicht eigens deshalb gegründet, ausgebaut und in den letzten Jahren ins Gigantische erweitert worden, um den Umtrieben des Klassenfeindes Einhalt zu gebieten? Und hatte es nicht stets gehießen, daß die südafrikanischen Rassisten eines der verachtenswürdigsten Regimes der Welt ausübten? Selbst bürgerliche Staaten ächteten die Apartheid oder scheuten die offene Zusammenarbeit. Und nun stellte sich heraus, daß Mitarbeiter seines Organs - so nannte sich die Staatssicherheit gern: das Organ - Mitbesitzer einer südafrikanischen Mining Corporation waren, die nach blutig niedergeschlagenen Streiks der schwarzen Bergarbeiter Schlagzeilen gemacht hatte. Immerhin besaß die Firma 40 Prozent der Aktien und hatte kräftig kassiert. Wohin waren die Dollars oder Rands geflossen? Darüber gab die Diskette keinerlei Auskunft. Sie enthielt nichts als Bilanzen. Und an die zweite Diskette, deren Existenz auf der entwendeten belegt wurde, kam er trotz aller Bemühungen nicht heran. Sie wurde, ohne ausgewertet worden zu sein, zur Zentrale verfrachtet und dort zusammen mit der gesamten Datenhinterlassenschaft vernichtet.
Kurt Radomski wußte nicht, was er nach der endgültigen Auflösung des Amtes tun sollte. Die Presse faselte von alten Seilschaften, die zusammenhielten und sich gegenseitig die besten Posten zuschanzten. Wenn so etwas tatsächlich existierte - und er zweifelte nicht daran -, gehörte er jedenfalls nicht dazu. Er mußte zusehen, wo er in Zukunft bleiben würde - denn aus dem Vorteil, Mitarbeiter des Organs zu sein, war inzwischen ein Makel geworden. Also sprach er seinen Vorgesetzten an, einst Stellvertreter des Generals, jetzt Leiter des sich auflösenden Bezirksamtes. Er wollte nichts als ein Ende des Seils in die Finger bekommen. Generalmajor Gerlich erklärte, ohne rot zu werden, weder etwas von dem Südafrikageschäft noch von Seilschaften zu wissen; er bat Radomski, zu schweigen: Über das Ministerium für Staatssicherheit seien genug übler Gerüchte in Umlauf. Die Disziplin Radomskis langte bis zum zweiten Unfall. Als ein LKW ihn an den Straßenrand drängte und Radomski nur durch ein Wunder nicht an den Betonmast knallte, hatte er es für einen Zufall gehalten. Als ihm dasselbe eine Woche später wieder passierte - diesmal wurde eine Tür eingedellt, doch kam er wiederum glimpflich davon -, war ihm klar, daß man höherenorts seiner Disziplin mißtraute. Er beschloß, sich eine Lebensversicherung zu verschaffen: Wenn der Südafrikadeal bekannt war, hätte niemand mehr ein Interesse, ihn zu beseitigen. Er heuerte seine ehemalige Genossin "für eine Spritztour nach Bayern" an und fuhr in ihrer Begleitung nach Pullach. Während Anna im Lada wartete, ging er auf den dunkel verglasten Pförtnerkasten vor dem Haupttor des Bundesnachrichtendienstes zu und war nur noch einige dutzend Meter vom Eingang entfernt, als drei Männer, vertieft in ein offenbar heiteres Gespräch, das Gelände verließen und - zu Radomskis Glück - in die Gegenrichtung liefen. Einer der drei war Generalmajor Gerlich, sein Chef. Radomski machte auf der Stelle kehrt und setzte sich wieder in seinen Lada. Annas Fragen beantwortete er ausweichend. Er schlug ihr eine Spritztour nach Hamburg vor. Wenn der BND nicht der geeignete Adressat war, dann vielleicht das einflußreichste Nachrichtenmagazin im deutschen Sprachraum. Natürlich wußte er, daß es auch in München eine Redaktionsvertretung gab, doch meinte er, die lange Fahrt zum gründlichen Bedenken zu brauchen.
"Da hast du mich ja in eine schöne Scheiße reingezogen", kommentierte Anna Radomskis Erzählung. "Andererseits ist das Geschäft wohl doch nicht so brisant, daß man dich deswegen umbringen würde. Eine Kohlenmine!"
"Kohlen, Diamanten, Platin und Uran. Es geht um hunderte Millionen! Wenn die Sache noch ein paar Jahre hält, vielleicht gar um eine Milliarde oder mehr. Eine Milliarde, die noch in keiner Abrechnung aufgetaucht ist. Und Morde geschehen oft schon aus wesentlich nichtigeren Gründen."
"Ich weiß. Taxifahrer wurden wegen fünf Mark erschossen. Wer garantiert dir, daß man nicht hinterher auch noch mit dir abrechnet, weil du ihnen die Tour vermasselt hast?"
"Morde aus Rache geschehen viel seltener, als einen die Krimis glauben machen. Eine Gefahr bin ich nur, solange ich allein den Deal kenne. Da ist es geradezu ein Gebot der Klugheit, mich vorher umzubringen. Aus Rache hingegen töten nur Fanatiker. Und wer diese Sorte Geschäfte betreibt, der ist sicher ein Verbrecher, aber ebenso sicher ein nüchterner Geschäftsmann, kein Fanatiker."
"Dann rechnest du also damit, unterwegs umgebracht zu werden?"
"Eigentlich nicht, denn die können sich natürlich denken, daß ich eine Sicherheitskopie bei einem Anwalt deponiert habe - zu öffnen im Fall meines Todes. Und für akute Notfälle habe ich ja dich dabei."
Anna lehnte sich zurück und betrachtete Radomski spöttisch. "Du hast es ziemlich clever angefangen", sagte sie. "Erstaunlich clever für einen Fachidioten, der von Geheimdienstarbeit keinen blassen Schimmer hat. Mich wundert nur, daß du gerade mir vertraust."
"Irgendjemandem muß ich doch vertrauen. Und du warst unter allen Genossinnen und Genossen noch die vernünftigste."
"Vernünftig?" Anna überlegte tatsächlich. "Ja, vernünftig bin ich wohl. Nur hat meine Vernunft mit deiner herzlich wenig zu tun."
"Was willst du damit sagen?"
"Verstehst du wirklich nicht? Im Organ hat niemand niemandem vertraut. Ich bin auf dich angesetzt worden. Ich habe dich überwacht, Kurt Radomski."
"Na schön, du hast. Du hast."
"Es scheint dich nicht sonderlich zu überraschen."
"Jetzt bist du arbeitslos. Vergiß die Firma und hilf mir."
"Arbeitslos?" Anna lachte. "Ich habe mehr Arbeit als du. Ich überwache dich noch immer."
"In wessen Auftrag? CIA? KGB? BND?"
"Gott, was bist du einfältig. Du hast dich zu lange mit deinen Computern beschäftigt und dabei nicht mitbekommen, was läuft. Möchte wirklich wissen, wer dich zum Oberstleutnant geschlagen hat."
"Man braucht eben auch Fachidioten. Wer, verdammt noch mal, bezahlt dich, und was hast du mit mir vor?"
"Du wirst Hamburg nicht erreichen. Und alles brauchst du nun wirklich nicht zu wissen. Du bist dumm durchs Leben gegangen, da kannst du auch dumm sterben." Anna steckte die Hand unter ihre Kostümjacke und packte den Kolben ihrer Makarow.
"Du wirst mich doch nicht hier erschießen wollen?" fragte Radomski und quälte sich ein Grinsen ab. Er deutete mit dem Kopf auf die zwei Wagen, deren Insassen zur gleichen Zeit den Parkplatz benutzten.
"Wer sagt dir, daß das keine Leute von uns sind?"
Radomski wandte sich um und betrachtete die Familie, deren Kinder mit dem Vater Haschen spielten, derweil die Mutter die Reste des Picknicks im Kofferraum des alten Audi mit Leipziger Kennzeichen verpackte. "Meine Menschenkenntnis", antwortete er.
"Damit ist es bekanntlich nicht weit her", höhnte Anna. "In mir hast du dich jedenfalls gründlich getäuscht."
"Bist du sicher?" fragte Radomski.
"Allerdings."
"Du kannst deinen Revolver übrigens loslassen. Er ist nicht geladen."
"Was?"
"Du hältst mich für einen Laien im Geheimdienstgewerbe, nur weil ich Datenspezialist bin? Liegt deiner Auffassung nicht wieder einmal die übliche Geringschätzung des Intellektuellen zugrunde? Und außerdem kannst du mich gar nicht umbringen. Du vergißt die Sicherheitskopie."
"Ach was, die ist längst in unserer Hand. ? Wie meinst du es, daß meine Pistole entladen ist?"
"Wörtlich. Ich habe sie entladen."
"Wann denn? Ich trage sie am Körper! Da wäre nicht mal ein Taschendieb rangekommen!"
"Und wann hast du sie angelegt?"
"Heute morgen, als du mich abgeholt hast, und zwar im Schlafzimmer, das du nicht betreten hast."
"Das ist ein Irrtum, der mich bei einer so routinierten Praktikerin wie dir verwundert. Ich bin etwas früher gekommen - nicht ohne Grund. Ich wußte, daß du noch nicht fertig bist, und ich wußte auch, daß Frauen - und du bist nicht nur eine Killerin, sondern eben auch eine nicht unattraktive Frau -..."
"Danke."
"... nie aus dem Haus gehen, ohne sich angemalt zu haben. Du warst schon fast fertig und vielleicht auch mißtrauisch, aber eine Minute hast du schon noch benötigt. Und wie lange, glaubst du, braucht ein Fachidiot, um ein volles gegen ein leeres Magazin umzutauschen?"
"Da bin ich baff." Anna nahm endlich die Hand aus der Jacke und starrte Radomski verwundert an. "Vielleicht hätten wir doch mit dir arbeiten sollen. Du besitzt verborgene Talente. Warum hast du deinen Leibwächter entwaffnet?"
"Du scheinst mich wirklich für blöd zu halten. Meinst du, ich wußte nicht, daß du auf mich angesetzt warst? Ein Mann spürt es, ob man ihn um seinetwillen oder auf höheren Befehl umgarnt. Vielleicht nicht jeder Mann, aber ich habe es gemerkt. Tut mir leid, daß ich deiner Geschicklichkeit ein so schlechtes Zeugnis ausstellen muß."
"Warum, zum Teufel, hast du mich mitgenommen, wenn du wußtest, daß ich für die Firma arbeite?"
"Um euch in Sicherheit zu wiegen natürlich. Ihr bildet euch ein, mich unter Kontrolle zu haben. Das war meine einzige Chance, euch zu entwischen."
Anna nickte langsam. "Mir scheint, du sagst die Wahrheit. Und wie soll es weitergehen - deiner Meinung nach?"
"Du hast versagt, also werden sie dich in Zukunft nicht eben mit Aufträgen überhäufen. Das Klügste ist, du tust dich mit mir zusammen. Wir fahren nach Hamburg, packen gründlich aus, kassieren ab und verdrücken uns dann gemeinsam, bis Gras über die Sache gewachsen ist."
"Klingt ganz gut. Warum willst du mich schonen?"
"Es mag albern klingen für eine Kampfmaschine, aber ich mag dich trotz allem."
"Danke. Du bist heute ausgesprochen liebenswürdig zu mir. Ich frage mich, womit ich das verdient habe."
"Mit deiner Schönheit. Was hältst du von meinem Plan?"
"Nichts."
"Warum nicht?"
"Weil er bodenlos naiv ist. Du hast selbst gesagt, daß es um eine Milliarde geht. Meinst du, Redakteure lassen sich nicht bestechen? Und wenn tatsächlich nicht - meinst du, sie sind gegen Unfälle gefeit?"
"Bei der Organisierung von Unfällen kann man auch Pech haben, wie mein Fall beweist. ? Dann verkaufen wir unser Wissen eben an mehrere Zeitschriften und gleich noch ein paar Tageszeitungen. Die ganze Hamburger Presse kann selbst unsere Firma nicht ausrotten."
"Stimmt schon. Und vor allem ist es nicht nötig, wenn ein Toter hinlänglich genug ist." Anna steckte die Hand wieder unter ihre Jacke. "Du bist mir auch sympathisch, Kurt, und es tut mir leid, daß gerade ich es tun muß, aber mir bleibt keine Wahl. Du bist nämlich doch ein blutiger Laie. Meinst du, ich stecke mir eine ungeladene Pistole ein? Natürlich habe ich das Magazin überprüft heute morgen und wieder gewechselt. Danach blieb mir sogar noch Zeit einen Anruf. 'Schwätzer' - das bist du, Kurt, OV Schwätzer - 'hat was gemerkt. Was soll ich tun?'"
"Und die Antwort?" fragte Radomski ungläubig.
"War: 'Nichts anmerken lassen. Neue Direktiven in Pullach.'"
"In Pullach? Woher wußtet ihr?"
"Sei nicht albern. München als Fahrziel - wohin sonst hättest du fahren können?"
"Ihr habt es riskiert, daß ich beim BND schwatze?"
"Lassen wir es mal dahingestellt sein, ob die nicht sowieso Bescheid wissen, weil sie auch drinhängen - das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber du bist ja nicht hineingegangen. Warum nicht?"
"Weil Generalmajor Gerlich herauskam, das weißt du doch."
"Eben. Und warum kam der General heraus? Weil ich ihm ein Zeichen gegeben habe, daß wir da sind."
"Du gibst Zeichen an den BND? Also arbeitest du doch für die!"
"Sei nicht so primitiv. Was ist schon der BND? Du denkst immer noch in Schemata. Hier geht es um Geld, nicht um Geheimdienstarbeit!"
"Wie kam dann der General auf das Gelände?"
"Hast du gesehen, daß er drin war? Na also. Er und zwei Männer - übrigens zwei Genossen, lieber Kurt, auch wenn sie wie Juppies gekleidet waren - entfernten sich vom Tor, aber das heißt noch lange nicht, daß sie drinwaren. Sie werden wohl die Wache nach dem nächsten Biergarten gefragt haben. Der General dachte sich schon, daß du an den Weihnachtsmann und an Zufälle glaubst. Zufälle in unserem Gewerbe! Armer Fachidiot."
Radomskis Hände wurden feucht. Er wollte es sich nicht anmerken lassen und sagte: "Dann mußte der General meinetwegen nach Pullach? Danke für die Wertschätzung! Womit habe ich sie verdient?"
"Einzig mit dem Entladen meiner Pistole, sonst wäre dir schon auf der Fahrt etwas zugestoßen. Wir mußten herausfinden, was du weißt. Das ist der einzige Grund für dieses Plauderstündchen."
"Und nun wißt ihr es?"
"Ja. Du ahnst absolut nichts von unserer Organisation, du hast lediglich aus alter Gewohnheit mir mißtraut." Anna zog am Griff ihrer Makarow. "Und jetzt steigen wir wieder in den Wagen."
"Ich denke nicht daran." Radomski lehnte sich zurück. "Ich gebe zu, daß meine Situation belämmert ist, aber auf einem öffentlichen Parkplatz erschießt du mich nicht."
"Willst du die Kinder zu Hilfe rufen?"
"Ich bleibe einfach sitzen."
"Bis morgen früh?"
"Bis mir etwas eingefallen ist."
"Armer Kurt. Die Initiative liegt längst nicht mehr bei dir. Da hat sie übrigens noch nie gelegen."
"Und was ist mit den Kopien?" fiel Radomski ein. "Ich hatte damit gerechnet, überwacht zu werden, und habe nicht nur einen Rechtsanwalt verständigt."
Anna lächelte gelangweilt. "Du hast eine Diskette bei Rechtsanwalt Mehlhorn in Ostberlin deponiert, einen Brief an Rechtsanwalt Kautner in Hannover geschickt und einen weiteren Brief bei einem Notar hinterlegt, dessen Name mir entfallen ist. Habe ich etwas vergessen? Ach ja, deinen PC. In diesem Augenblick dürfte die Festplatte gelöscht sein, und deine Disketten fallen einem Wohnungsbrand zum Opfer. Deine Frau war unvorsichtig mit dem Gas."
"Willst du sagen, ihr habt sie umgebracht?" Radomski starrte sie entsetzt an.
"Du hast sie doch in Gefahr gebracht, nicht wir. Aber beruhige dich. Vielleicht geht die Wohnung in ihrer Abwesenheit hoch."
"Warum das alles? Wegen Geld? Ist das wirklich Menschenleben wert?"
"Spiel dich nicht als Moralist auf. Weshalb bist du denn zur Firma statt in ein Rechenzentrum oder an eine Uni gegangen? Aus Idealismus oder weil wir besser zahlten?"
"Ich begreife nicht, wie ich dich eben noch sympathisch finden konnte. Meine Frau weiß von nichts! Von gar nichts! Habt ihr denn überhaupt kein Gewissen?"
"Gewissen?" sprach Anna langsam nach, als übte sie ein Fremdwort. "Wir besitzen andere Moralvorstellungen als du, das ist sicher. Du denkst nur an dich. Du wolltest einen Posten vom General erpressen, und als das nicht klappte, wolltest du uns an den Klassenfeind verraten. Sprich du von Gewissen! Gerade du!"
"Und ihr? Wegen Geld geht ihr über Leichen. Natürlich war ich hinter Geld her, wer nicht, aber ich bin auch aus Idealismus zur Firma. Ihr habt alle Ideale verraten und verkauft. Alle!"
"Wenn es dir ein Trost ist: Du irrst. Mag sein, daß unsere Hände nicht immer sauber sein können, aber das Geld brauchen wir nicht für eine Villa an der Côte d'Azur."
"Sondern für die Weltrevolution? Ha!"
"Glaub es oder laß es bleiben, das ist ohne jede Bedeutung."
"Ihr beutet Neger aus für die Weltrevolution? Ihr seid ja noch schlimmer, als ich für möglich hielt!"
"Traumtänzer." Unmotiviert hob Anna den rechten Arm und ließ ihn wieder sinken. "Die Weltrevolution ist out. Jetzt geht es ums Überleben, nur um das nackte Überleben. Das eigene und das der großen Ideen. Dafür braucht man Macht. Die Honecker und Mielke haben auf den Polizeistaat gesetzt und sind jämmerlich gescheitert. Wir haben Marx gründlicher gelesen als die Rentnerriege und setzen auf die Ökonomie. Ohne Geld ist Macht auf Dauer nicht zu halten, nicht mal mit Gewalt. Nur ein funktionierendes Wirtschaftssystem bringt langfristig Geld ein. Aber das wird einer wie du nie begreifen. Schade."
"Dann habe ich nur noch eine einzige Lebensversicherung, von der ihr nichts wißt", sagte Radomski und steckte die rechte Hand in seine Hosentasche. Er wollte das präzisieren, doch da bemerkte er, daß jemand hinter ihm stand. Er wandte sich um. Es war ein fremder Mann. "Sie wünschen?" fragte Radomski freundlich.
Anna schüttelte heftig den Kopf, doch der Fremde konnte die Bewegung nicht mehr stoppen, zu der er angesetzt hatte. Er schlug Radomski von der Seite die Kante seiner rechten Hand gegen den Hals. Radomski verkrampfte die Hand in der Tasche und fiel von der Bank. Der Fremde setzte ihn auf, nickte Anna zu und ging davon - zu dem weißen BMW, der außer Sichtweite in der Parkplatzausfahrt stand.
Die Leipziger Familie hatte nichts bemerkt.
"So, einsteigen, wir fahren weiter!" rief der Vater den Seinen in breitem Sächsisch zu.
Anna wartete, bis der klapprige Audi anfuhr, wobei der Familienvater etliche Fehlzündungen produzierte und die Blicke des älteren Ehepaares im Toyota, das einzig noch hier rastete, auf sich zog, dann packte sie Radomski unter der rechten Achsel und zerrte ihn unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft von der Bank auf ihren Rücken. Anna Felske fiel es trotz ihres durchtrainierten Körpers schwer, den leicht verfetteten Stubenhocker die zehn Meter zum Wagen zu tragen. Sie öffnete die Beifahrertür, ließ ihn auf den Sitz sinken und verstaute seine Beine. Noch immer war die rechte Hand Radomskis in dessen Hosentasche. Eine zusätzliche Lebensversi-cherung, hatte er gesagt, als dummerweise der von ihr herbeigewinkte BMW-Fahrer angelangt war und sofort zugeschlagen hatte. Was meinte Radomski?
Anna fühlte seinen Puls. Er schlug kräftig. Wahrscheinlich würde der Fettsack bald aufwachen. Dann könnte sie ihn ja fragen. Wenn sie ihm die Makarow dabei in den Magen drückte, würde ihm die richtige Antwort schnell einfallen.
Sie schlug die Beifahrertür zu und setzte sich auf den Fahrersitz. Warum eigentlich sollte sie warten, bis er aufwachte? Irgendetwas verbarg er in seiner Hosentasche. Wahrscheinlich eine kleine Pistole. Zwar fürchtete sie ihn nicht, doch war es sicherer, sie nahm ihm die Waffe ab. Anna Felske lehnte sich über den schlaff im Sitz hängenden Mann und zerrte an seiner in der Tasche verkrampften Hand.
Sie bekam die Hand nicht heraus, und ehe sie noch überlegen konnte, daß ein Bewußtloser unmöglich seinen Arm so steif halten konnte, drückte er ihr schon mit der linken Hand den Kopf nieder, genau auf seinen Schoß.
"Sei nicht leichtsinnig", sagte Radomski. "Meine letzte Lebensversicherung ist tödlich."
Anna biß in die Hose, so kräftig es ihr möglich war. Radomski, an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, schrie auf und ließ los. In seinem Schmerz riß die rechte Hand aus der Hosentasche - und schrie gleich noch einmal auf. In seiner Hand hielt er einen Metallring.
Anna zog ihre Makarow und richtete sie auf den Mann. "Keine Bewegung!"
"Mensch, das ist eine Handgranate!" schrie Radomski und steckte die Hand wieder in die Tasche.
"Deine Tricks ziehen nicht bei mir!"
Radomski hörte nicht auf ihre Worte. Er zog die Eierhandgranate aus seiner Tasche und wollte die Tür öffnen, um sie hinauszuwerfen. In ihrer letzten Sekunde begriff Anna, daß sie den Mann unterschätzt hatte. Nur in einem Punkt stimmte ihr Urteil. Radomski war fett und langsam. Zu langsam.

 

 

 

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