Historische Illustration "Siegfried" zur Nibelungensage

 

Sifrit

Es blieb dunkel. War er noch immer unterwegs? Der Sprung in die Vergangenheit, so hatte er gelernt, dauerte dem Empfinden und auch den Uhren nach nur Sekunden. Mit Auf- und Abbau des Kraftfeldes zusammen keine zehn Minuten. Ein Bruchteil der Zeit, die er allmorgendlich für den Gang zum SIZEV brauchte, zum Staatlichen Institut zur Erforschung der Vergangenheit, in dem er sein Praktikum absolvierte. Zu seinem ersten Einsatzort war er, die umfangreiche Grenzkontrolle mitgerechnet, sogar einen ganzen Tag unterwegs gewesen.. Er würde sich daran gewöhnen. Auf den nächsten Reisen würde ihn Gegenwärtiges nicht mehr erschüttern. Wenn er nur jetzt nicht in den Zeiten verschwunden war. Er tastete um sich. Eine enge Zelle aus Metall, darin unerkennbare Apparate. Das Vorhandensein von Technik beruhigte ihn. Er beschloß, geduldig seiner Erlösung zu harren.
Ein ausgesucht unattraktives Ziel, zu dem das SIZEV ihn geschickt hatte. Das hat man davon, wenn man Beststudent ist: Disponibilität, du mußt einsehen ... Das Römische Reich war sein Spezialgebiet. Um dorthin zu gelangen, hatte er vieles auf sich genommen, sogar Streberei. Lediglich im Sportunterricht war er ohne Mühe der Beste. Eine gute Kondition hätte er in Rom gebrauchen können. Da die SIZEV-Erkunder aus Gründen der Sicherheit gemeinhin als Vertreter der jeweils herrschenden Klasse auftraten, wäre er einer der bekämpfenswürdigen parasitären Sklavenhalter geworden. Oh, er hätte einen guten Sklavinnenhalter abgegeben. Statt dessen; Karl der Große und der Feudalisierungsprozeß bei den Sachsen an der Unterelbe. Nicht gerade der Wunschtraum eines erlebnishungrigen Studenten. Daß die beiden Dozenten, die er in der Zielzeit treffen würde, als die fähigsten Reisenden des Instituts galten, sich seit zwanzig Jahren in Karls Großreich behaupteten, machte die Sache nicht besser. Der Umgang mit ihnen war sicherlich ungemein bildend, aber kein Ersatz für das süße Römerleben. Und das nur, weil der Spezialist für das Frankenreich in den Seminaren ein paar unbequeme Äußerungen von sich gegeben hatte. Der Reisetermin und die Kosten für die Transferenergie waren geplant. Wen also schickte man? Den zuverlässigen Franz Pasoldt. Disponibilität ...
Angst schnürte den Magen zusammen. Dunkelheit. Stille. Er sprang auf und hämmerte gegen den Stahl. Niemand hörte ihn. Er ließ die Hände an der Wand heruntergleiten - und fühlte den Lichtschalter. Als es hell wurde, beruhigte sich der Magen. Ärgerlich schlug sich Franz an die Stirn. In der Reiseeinheit mußte es - unabhängig vom Jahrhundert - Licht geben, weil man im Dunklen den Rücksprung nicht einleiten konnte. Nun war alles einfach. Mit deutscher Gründlichkeit waren alle Knöpfe beschriftet, glücklicherweise. Technisches hatte Franz sich noch nie einprägen können. Klingel. Nur im Notfall benutzen. Zwei Stunden Wartezeit waren ein Notfall. Franz drückte die Klingel. Zwar hörte er kein Geräusch, aber zwei Minuten später pendelte eine der Stahlwände auf. In der Tür, durch die Licht einströmte - das Licht eines sonnigen Tages - stand ein Bischof, der so fett war, wie man sich die Vertreter dieses Standes gemeinhin vorstellte.
»Na, nu komm Se schon«, sagte der Prälat, und da er neuhochdeutsch sprach, war Franz beruhigt, obwohl er ihn nicht erkannte - die Porträtholographien im SIZEV-Vestibül waren zwanzig Jahre alt.
»Ich bin Doktor Theodor Schilling«, stellte sich der Bischof vor. »Und das«, Franz zuckte zusammen; erst jetzt sah er einen arrogant dreinblickenden, martialisch aufgeputzten Ritter in einem Lehnstuhl sitzen, »das ist Doktor Pavel Hladko.«
»Angenehm«, erwiderte der Praktikant »Ich bin Franz Pasoldt aus Berlin.«
»Damit wir uns gleich daran gewöhnen«, sagte Hladko ernst mit leiser, blasiert klingender Stimme, »dies ist der hochzuverehrende Bischof Rutger, einer der Missi ad hoc Karls.«
»Der was?«
Der Ritter zog eine Augenbraue hoch und musterte den Praktikanten spöttisch.
»Königsboten«, erklärte der Bischof. »Du würdest das Regierungsinspektor nennen. Ich überwache im Auftrag unseres Kaisers die Einhaltung der Gesetzlichkeit in den Gauen. Aber das solltest du eigentlich wissen.«
Es sei ihm nur entfallen, entschuldigte sich Franz. Seine Unsicherheit sei dem mehrstündigen Aufenthalt im dunklen Raum geschuldet. Natürlich wisse er um die hiesigen Ränge der beiden, habe in dem Ritter längst den Grafen Ither, Herren dieses Gaus, erkannt.
Der Bischof mokierte sich über die Ungeduld der Herren in Berlin, die offenbar Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden könnten und den Praktikanten zwölf Stunden zu früh auf die Reise geschickt hatten. Auch der Graf erregte sich: Man müsse den Kollegen mal wieder kräftig die Meinung sagen.
Franz besänftigte die Erregung der Herren. Er wolle sich seiner angenehmsten Pflicht sofort entledigen und teile dem Bischof hiermit mit, daß er zum außerordentlichen Professor des SIZEV berufen sei. Das hätte einstweilen keine praktischen Folgen, da nicht vorgesehen sei, ihn hier abzuberufen, doch würde sein Gehalt rückwirkend vom 1.1. des laufenden Jahres aufgestockt, und die Pension sei auch nicht zu verachten. Der Bischof lächelte gemessen, als Franz ihm die Fotokopie der Berufungsurkunde aushändigte. Er klopfte dem Grafen auf die Schulter und prophezeite, auch er werde bald an die Reihe kommen.
Sie plauderten eine Weile über Neuigkeiten aus Berlin. Jakobs, der alte Kuczinskyaner, sei noch immer - ja, 93 ist er inzwischen - der Rektor des SIZEV und habe seinen 16. Ehrendoktor erhalten, Cambridge diesmal.
»Kein Wunder«, kommentierte der Graf, »solange nur wir die Technik beherrschen ... Und alles auf unsere Knochen ...«
Damit waren sie bei dem Thema angelangt, das ihnen als dringlicher erschien. Sie testeten die hypnopädisch beförderte Sprachfertigkeit des Praktikanten, waren damit zufrieden, gerieten allerdings ins Wundem, als sie sein Zeitwissen abfragten - jeder Oberschüler müßte mehr Kenntnisse über Karl den Großen besitzen, bemerkte Hladko gallig. Knappe Vorbereitungszeit? Das entschuldigt nichts.
Schließlich ließen sie ihn, wie es Vorschrift war, die Regem des SIZEV für Erkundungen aufsagen, eine Aufgabe, der sich Franz mit Bravour entledigte, obwohl die Direktiven von Fremdwörtern und Genitivketten strotzten - ein Meisterstück verdunkelnder Sprache. Dabei besagte das kompliziert verklausulierte Regelwerk nichts anderes, als daß ein Erkunder nicht in historische Vorgänge eingreifen darf. Es gab zwei Ausnahmen: Sollte der Erkunder durch die Macht der Umstände zum Handeln gezwungen werden, so mußte er Partei für den gesellschaftlichen Fortschritt ergreifen. Im übrigen durfte er sich der von ihm gespielten Rolle gemäß verhalten, also tun, was von einem Grafen, Bischof, Künstler der Zeit erwartet wurde. Die Rechtsvorschriften der eigenen Gesellschaft sind für die Dauer der Erkundung außer Kraft. Franz brauchte zehn Minuten, um diese einfachen Sachverhalte im Originaltext darzustellen.
Die Herren Erkunder hatten keine Wahl, sie mußten es mit Franz Pasoldt versuchen. Hladko-Ither erläuterte die Situation. Daß die Sachsen seit 785 unter Karls Oberhoheit lebten, werde Franz wohl wissen. Seit über zwanzig Jahren also werden sie christianisiert, und auch der Feudalisierungsprozeß schreite unaufhaltsam fort. Allerdings gäre es immer noch und immer wieder im Lande. Darüber müßten sie mehr wissen, jedoch gehörten sie beide, Rutger wie Ither, der herrschenden Klasse an, was den Kontakt mit dem Volk ohne Anwendung von Gewalt unmöglich mache.
»Ja, lieber Franz«, sagte der Bischof, »die Pionierzeiten des SIZEV sind noch nicht vorbei. Auf dich wartet ein Sonderauftrag, der in die Geschichte unseres Instituts eingehen wird. Deine Junkerkleidung steht dir, aber wir brauchen dich als Bauern. Als einen gewandten übrigens. Mach mal Handstand!«
»Ich bin Gesellschaftswissenschaftler«, protestierte Franz, verärgert darüber, daß er in dieser unerwünschten Zeit auch noch als Beherrschter agieren sollte.
»Du willst erst einer werden«, korrigierte der Professor. »Wenn du schon von Karl nichts weißt, können wir wenigstens erwarten, daß du zuschlagen kannst.«
Franz machte seinen Handstand, lief gar eine Saalrunde auf den Händen, demonstrierte dann in einem Gefecht mit dem Grafen, daß er keinen Gegner zu fürchten haben würde. Der Graf war sauer, der Bischof zufrieden.
Drei Tage später machte sich Franz auf den Weg. Die beiden Herren hatten ihm Vorträge über die Zeit gehalten, hatten ihn über Eß-, Trink-, Schlaf- und andere Gewohnheiten aufgeklärt, hatten ihn als Bauern eingekleidet, ihm eine Parole gegeben und für den Notfall des Bischofs Siegelring. Immer wieder hatten sie ihm die dritte SIZEV-Regel interpretiert: Er habe einen aufruhrwilligen Bauern zu spielen, und das heiße, daß er, wenn nötig, Aufruhr machen müsse, und wenn dabei wer auch immer zu Schaden käme, dann solle er sein Gewissen damit nicht belasten - der sei ohnehin 1200 Jahre vor seiner Geburt gestorben. Fast ein Freibrief zum Töten, dachte Franz belustigt. Wollen Sie ungestraft morden, gehen Sie zum SIZEV.
Das Haus am Wegrand sah wenig vertrauenerweckend aus: Rutenzaun, schiefe Lehmwände, schimmliges Schilfdach. Aus dem Fensterloch drang trunkenes Stimmengewirr. Offenbar eine Schenke. Als Franz eintrat, verstummten die Bauern. Mißtrauisch wurde der Fremde gemustert. Franz grüßte mit aufgesetztem Strahlen, die Bauern grüßten verhalten zurück, machten ihm aber keinen Platz. So setzte er sich allein an den zweiten Tisch des kleinen, schmutzigen Raumes und wedelte die Fliegen von der bekleckerten Platte. Franz hatte Hunger, aber die schmierige Type von Wirt versicherte, es sei nichts zu essen da. Zu trinken? Auch nichts. Franz wies auf den anderen Tisch. Das sei das letzte. Eine Kneipe, in der es nichts gibt - ganz wie zu Hause. Aber hier war vielleicht mit Geld etwas zu erreichen. Er ließ einige Münzen sehen, und der Wirt eilte tatsächlich in den Nebenraum und brachte ihm Fladen und ein Getränk, das als Wein vorgestellt wurde, jedoch wie Essig roch und schmeckte.
Das Geld hatte ihm zwar zur notwendigen Mahlzeit verholfen, dafür aber das Mißtrauen der Bauern vergrößert. Seit er den Raum betreten hatte, sprach niemand. War das Mißtrauen üblich, oder hatte er eine konspirative Versammlung gestört? Er wurde unverschämt gemustert, ließ sich aber den Appetit nicht verderben. Sollte er eine Lokalrunde geben? Gab es so was 808 überhaupt schon? Und wenn -würde es ihm nutzen? Erst jetzt begriff er, wie schwierig sein Auftrag war.
Und gerade als Zweifel in ihm wach wurden, ob er überhaupt der geeignete Mann dafür sei, kam ihm der Zufall in Gestalt zweier gewappneter Reiter zu Hilfe. Die saßen vor der Schenke ab und klirrten herein, steuerten sofort auf Franzens Tisch zu.
»Scher dich zu deinesgleichen«, sagte einer der beiden ohne Nachdruck.
»Ha?«
»Pack dich«, übersetzte der andere und stieß Franz von der Bank.
Die Bauern hatten sich über ihre Becher gebeugt, sie sahen nichts. Trotzdem wollte sich Franz das nicht bieten lassen. Er sprang auf und schubste den Reisigen, der sich gerade auf die Bank fallen ließ. Der andere griff sofort zum Schwert, und Franz blieb nichts übrig, als ihn mit einem kräftigen Hieb auf das Kinn am Zuschlagen zu hindern. Der Reisige stürzte zu Boden. Zur Sicherheit trat Franz dem anderen, der sich aufrappelte, kräftig in den Magen. Er schleifte die Benommenen nacheinander durch die Tür ins Freie und brüllte: »In Zukunft überlegt ihr euch, wie man sich in Gasthäusern aufführt!«
Er kehrte in die Schenke zurück und bildete sich ein, daß der Vorfall damit erledigt sei. Die Bauern starrten noch immer teilnahmslos in ihre Becher. Franz dachte sich nichts dabei und setzte sich. Er wollte dem Wirt ein Zeichen zum Nachschenken geben, aber der war im Nebenraum verschwunden.
Da stürmten die beiden Reisigen in die Schenke. Sie hatten ihre Schwerter gezogen. Der Bischof hatte gesagt, daß Franz sich im Notfall auf ihn berufen könne; dies war ein Notfall, aber dem wütenden Gebrüll nach zu urteilen, würde die beiden jetzt kein Bischof interessieren. Er war auf sich angewiesen.
Als die Reisigen nahe genug gekommen waren, schleuderte er ihnen den Tisch entgegen, sprang sofort hinterher. Einer brüllte auf, der andere wich rechtzeitig zurück. Franz entwand dem Stöhnenden das Schwert, stellte sich dem anderen. Er war unbesorgt. Wenn er es mit einem Mann wie Ither aufnehmen konnte, dann würde er bei dem kleinen Reisigen keine Schwierigkeiten haben. Gelassen parierte er die Schläge, erprobte eine einfache Finte -und traf den Hals des Gegners. Er hatte nicht gewußt, wieviel Blut ein Mensch hat und wie weit es spritzen kann. Ihn erstaunte auch, wie lange ein Toter noch stehen bleiben und wie laut er schreien kann.
Einer der Bauern warnte ihn. Schnell wandte sich Franz um, das Schwert vorgestreckt. Der zweite Reisige, ein langes Messer zum Stoß erhoben, sprang brüllend in das Schwert. Franz zog die blutige Waffe aus ihm heraus und ließ sie sinken. Das war ja Ernst gewesen! Zwei Menschen lagen am Boden, der eine tot, der andere sterbend. Kein schöner Anblick. Das ging nicht so schnell wie im Film, der Reisige wand sich und schrie.
Franz kam nicht dazu, sich dem Grauen hinzugeben. Die Bauern jubelten ihm zu. Der ihn gewarnt hatte, ein Mann namens Otfrit, schlug ihm auf die Schulter, bis die schmerzte, und der Wirt schaffte von irgendwoher einen Wein heran, der den Namen verdiente. Die Zuckungen und Schreie des Reisigen wurden müder, und die Bauern stießen mit Franz an.
»Wir halten dicht«, versicherte Otfrit. »Die Elbsümpfe sind unergründlich. Die Pferde? Davon kann sich das Dorf eine Woche lang ernähren. Für die Waffen gibt es Verstecke.«
Einige Bauern und der Wirt verschwanden mit dem Toten und dem Sterbenden. Zurück blieben Otfrit, ein Bauer namens Nithart und der blut-, wein- und siegestrunkene Franz, der nun den beiden die Legende auftischte, die Bischof und Graf für ihn ersonnen hatten. Er nannte sich Helmfrit, war Bauernsohn, hatte im Heer Karls gedient, gezwungenermaßen, versteht sich. Nach einer schweren Verwundung war er heimgekehrt und hatte verwüstete Äcker und die Gräber seiner Verwandten vorgefunden. Die Familie war bei einer regionalen Grafenfehde zu Tode gekommen, nur die Großmutter lebte noch. Als sie starb, hatte Helmfrit das väterliche Erbe verkauft und war dann nordwärts gezogen. Dort seien die Sachsen noch freier, habe er gehört. Die Elbsümpfe seien schwer zu kontrollieren, hier gäbe es noch Widerstand. Überrascht habe ihn die Passivität der Bauern.
Nun waren Otfrit und Nithart an der Reihe. Sie erzählten, einander erregt ins Wort fallend, von ihrem Leben. Der Kaiser habe in dieser Gegend zwei Grafen eingesetzt, Wido und Ither. Ither sei der mildere. Zwar sähe er unnachgiebiger als andere auf die Einhaltung der Abgaben, doch strafe er selten an Leib und Leben. Ihr Dorf hingegen läge im Gau des Grafen Wido. Bischof Rutger, der die Grafen kontrollieren solle, stecke stets nur mit Ither zusammen; um Widos Wandel kümmere er sich gar nicht. Und dieser Wido ...
»Er hat ... das Kind niedergeritten ... den Ältesten totpeitschen lassen ... die Schwester geschändet ... das Haus niedergebrannt ... die Hand abgehackt ... zum Heer gepreßt ... im Kerker verschwinden lassen ... ermordet ... niedergefackelt ... Blut, Tod und Schande!«
Franz-Helmfrit konnte kaum noch Einzelheiten auffassen. Sicher war nur, daß dieser Wido ein Monstrum war. Und was heißt, selten an Leib und Leben zu strafen? Zuerst doch wohl, daß es vorkommt. Kann man sich so etwas bieten lassen?
Sie wollten es nicht, versicherten Otfrit und Nithart. Früher, da gab es noch das freie Thing, unfähige Führer wurden abgesetzt, Gewalttäter verurteilt. Aber was nutze das Thing, wenn der Graf ein Fremder sei, sich nicht zugehörig, sondern überlegen fühle und auch die Macht besäße, sich jedem Beschluß zu widersetzen?
Helmfrits blaue Augen wurden dunkel. »Gewalt gegen Gewalt!«
»Wir beraten noch. Du hast uns den Weg gewiesen.«
Spontanes Zuschlagen nutzt nichts, wußte Franz aus dem Geschichtsunterricht. »Wir müssen uns organisieren, die Gleichgesinnten sammeln. Geht's den Leuten in den Nachbargauen besser? Na also! So ein Graf ist kaum stark genug, mit den Bauern des eigenen Gaus fertig zu werden, wenn sie einig sind. Verbinden sich die Bauern mehrerer Gaue, können sie nacheinander mit allen Grafen fertig werden. Sie müssen nur schnell und gründlich sein.
Niemand darf entkommen, um die anderen zu warnen.«
Nithart nickte begeistert. Auch Otfrit ließ sich mitreißen, aber einen Einwand konnte er doch nicht unterdrücken: »Wenn wir kämpfen - wer bestellt dann die Felder?«
Die Bauern, die Reisige und Pferde hatten verschwinden lassen, waren zurückgekehrt, umstanden die Diskutierer. Wußte der Fremde auch auf eine solcherart komplizierte Frage eine Antwort?
»Ein paar Wochen lang werden es die Frauen allein schaffen. Sicher wird weniger geerntet. Vielleicht ist auch das Vieh etwas dürrer. Aber dafür entfallen alle Abgaben. Der Kaiser ist weit! Ob der eine neue Armee nach Sachsen schickt? Und wenn - mit der werden wir auch fertig!«
Der junge Helmfrit, der da wie ein Sagenheld saß, groß, stark und klug, ein Bote der Götter offenbar, eine Lichtgestalt wie Balder, ja, dieser Recke machte Eindruck. Wotan hatte sich ihrer erbarmt und ihnen einen Führer gesandt. Und sie jubelten und tranken ihm zu und hielten den Aufstand schon für gewonnen, noch ehe Helmfrit zugesagt hatte, ihn zu führen. Franz sah, wie gläubig die Bauern zu ihm aufsahen, und wußte, daß er sie nicht würde enttäuschen können.
Am Abend führten die schwankenden Bauern ihren schwankenden Helden in ihr Dorf, bis zu dem sie trotz Abkürzungen durch die Sümpfe eine Stunde unterwegs waren, so daß Franz sich wieder klar fühlte, als sie ankamen. Übernachten würde er beim Ältesten. Das war der Endvierziger Otfrit. Die Frauen kamen aus ihren Hütten, weil ihre Männer ungewohnt ausgelassen lärmten. Die hatten dann viel zu erzählen. Am meisten Otfrit, der den Recken seiner Familie präsentierte und eine Kienfackel extra anzünden ließ, wodurch es kaum heller wurde, weil sich die Hütte mit Rauch füllte.
Otfrits Haus war wesentlich kleiner und ärmlicher, als Franz erwartet hatte. Es bestand aus zwei Räumen, einem für das Vieh, einem anderen für die Menschen. Otfrit zeigte auf eine Frau, die, so vermutete Franz, die Urahnin der Sippe war, eine müde, verbrauchte Bäuerin: Otfrits Gattin, die Mutter seiner Kinder. Die Kinderschar war stattlich, obwohl, wie Otfrit sagte, sechs gestorben seien. Drei, sechs, zehn - das waren allemal genug. Zwei Söhne, das genaue Alter war nicht zu erfahren, sie mußten um die 20 sein; seit der unbemerkten Panne mit der Bauersfrau hielt sich Franz in Schätzungen zurück.
Es folgten drei Mädchen zwischen 20 und 16, deren mittlere, Gebba, in entsprechender Aufmachung hätte ganz nett aussehen können. Franz musterte das Mädchen, und so entging ihm die Vorstellung der fünf Kiemen. Gerade die freilich umdrängten ihn am meisten, wimmelten herum, betasteten den Helden, der mit bloßer Hand vier schwerbewaffnete Reisige erschlagen hatte (Otfrit neigte zu Übertreibungen). Geduldig beantwortete Franz alle Fragen, zeigte schließlich gar, gutgelaunt, den beiden ältesten Jungen ein paar Judowürfe, die sie ungeschickt, aber voller Begeisterung nachahmten.
Als es um die Schlafplätze ging, bot Franz an, im Stall zu nächtigen, aber das wollte man dem Ehrengast nicht zumuten. Wo ein Dutzend unterkam, war auch Platz für ihn. Gebba würde die Strohschütte am Fensterloch räumen und bei ihren Schwestern liegen.
»Meinetwegen braucht Gebba da nicht wegzugehen«, sagte Franz flapsig dahin. Die Blödelei wurde ernst genommen, die Bauern nickten, und Gebba lächelte ihn an. Da begriff Franz, welches Ansehen er erworben hatte - oder alles, was ihm über die Sittenstrenge der Germanen beigebracht worden war, stimmte nicht. Es war fast so, als böten sie ihm das Mädchen an. Wie denn, sollte er hier, in dem Raum mit all den anderen ...? Ihm war klar, daß der Beischlaf, etwa der der Eltern, nichts Ungewöhnliches für die Kinder war: Alles Leben spielte sich in diesem Raum ab. Doch wenn es die Eltern gewohnt waren, ihm, Franz Pasoldt aus Berlin, machte es etwas aus. Er war nicht schüchtern noch prüde, gerne hätte er die Chance genutzt, aber die Umstände benagten ihm einfach nicht.
Unbefangen legte sich das Mädchen neben den Fremden, kuschelte sich an ihn und schlief schnell ein. Bei den Eltern hingegen, wie Franz hörte, war der zweite Frühling ausgebrochen; allerdings wurden sie schnell müde.
Franz lag wach und grübelte. Innerhalb weniger Stunden war er vom mißtrauisch beobachteten Fremden zum vertrauten Helden geworden. Und dabei hatte er nichts Besonderes getan. Er hatte sich zur Wehr gesetzt, als er angepöbelt wurde, und zwei Raufbolde waren ihm eher versehentlich ins Schwert gelaufen. Dann hatte er ein paar Überlegungen vorgetragen, die daheim jedes Schulkind machen könnte. Die Leute hier waren naiver als Kinder. Man muß ihnen helfen. Er muß ihnen helfen. Er ist der richtige Mann dafür, schon von seiner Größe her, knapp 1,80 Meter, zu Hause kaum bemerkenswert, aber die Menschen des 9. Jahrhunderts waren im allgemeinen kaum größer als 1,60 Meter. Er war den meisten Rittern dieser Zeit überlegen, war gewandter, kräftiger, besser ausgebildet. Mit ihm an der Spitze eines von ihm speziell trainierten Heeres dürften die Bauern unschlagbar sein.
Irgendwann schlief er ein, alpträumte von den erschlagenen Reisigen, hörte die Schreie des Sterbenden, schrak mehrfach hoch und dämmerte dann doch weg, schwer vom Wein. Die fröhliche Bauernfamilie, die sich beim ersten Hahnenschrei vom Stroh erhob, brachte die alte Hochstimmung schnell wieder zurück. Gebba hatte ihn mit einem Kuß geweckt und lächelte ihn den ganzen Morgen über verliebt an. Und da gefiel Franz die Enge, gefiel ihm die dunkle, enge Kate, gefiel ihm die familiäre Gemeinsamkeit, die er von zu Hause nicht kannte und die er sich trotz seines historischen Studiums nicht hatte vorstellen können.
Die Familie ging hinter das Haus. Franz, der den Grund nicht ahnte, folgte, und als er sah, wie sich alle nebeneinander hockten oder an Büsche stellten, gesellte er sich dazu.
Ihm war, als wäre er nach zweieinhalb Jahrzehnten daheim angekommen. Gerne wäre er länger geblieben, doch mußte er den Aufstand organisieren, wenn er sich der trunkenen Festlegungen vom Vortag recht entsann. Bald würde er zurückkehren, versicherte er unter vier Augen Gebba. Gelegenheit dazu fand sich nach dem Frühstück, das aus trockenem Brot und klarem Wasser bestand und das Franz besser schmeckte als alles, was er bisher je zu sich genommen hatte. Das Mädchen strahlte Held Helmfrit an, und der Recke strahlte zurück.
Stunden später wanderte er zum nächsten Dorf. Nithart war sein kundiger Führer, sollte ihm nicht nur die Wege weisen, sondern vor allem das Mißtrauen der Bauern gegen den Fremden beseitigen. Nithart erwies sich als witziger Mann. Zwar war, was er erzählte, zumeist düster und blutig, aber er machte sich sarkastisch über sein und seiner Gefährten Duldertum lustig, und als er merkte, daß seine Erzählweise Anklang fand, wuchs er über sich hinaus, schwadronierte und erfand hinzu. Sind doch nicht so naiv, die Brüder, dachte Franz. Na ja, wer weiß, was die Zukunftsleute von uns denken würden, kämen sie uns besuchen. Warum kommen die eigentlich nicht?
Die Agitationsreise wurde ein kaum erwarteter Erfolg. Nithart warb für den Recken, der mit bloßen Händen zwanzig Reisige erschlagen hatte, und Helmfrit demonstrierte ein paar Judowürfe, so daß die Bauern sahen, daß Nithart nicht übertrieb. Freilich bekamen ihn nicht viele Bauern zu sehen. Einstweilen sollten nur die Anführer eingeweiht werden - Verräter sind keine Erfindung der Neuzeit. Helmfrits Plan sah als ersten Schritt ein Treffen der Dorfältesten und der kampferprobten Männer in der Elbsumpfschenke vor. Dort sollte gemeinschaftlich das weitere Vorgehen beraten werden. Zum Diktator nämlich fühlte sich Franz absolut nicht berufen, noch nicht.
Tagelang waren die beiden unterwegs, besuchten die Dörfer von drei Grafen - darunter Wido und Ither -, forderten die Ältesten auf, auch in den Nachbargauen zu werben, legten den Termin für das Treffen fest. Nach einer Woche schien es Franz, als habe er nie anders gelebt. Er schlief in Kleidern, wusch sich kaum, kackte gemeinsam mit wildfremden Menschen, soff, führte derbe Reden, prahlte und prügelte sich zwecks Demonstration seiner Unüberwindlichkeit. Nithart war ihm Freund geworden, und als er sagte, hier ende der Bereich, in dem er bekannt sei, jetzt müsse er sich einen anderen Führer suchen, kehrte er mit ihm um. Die Ältesten würden schon für die gute Sache werben.
Trotz aller Geheimhaltung hatte sich die Reise der beiden herumgesprochen. Als sie das Dorf, in dem sie zuletzt übernachtet hatten, verließen, kamen drei aufgeregte Bauern angerannt, die sich dem Recken zu Füßen warfen und um seinen Beistand baten. Sie hatten gehört, daß er allein mit fünfzig Reisigen fertig geworden sei, und so ein Mann könne es auch mit Ungeheuern aufnehmen. In den Sümpfen bei ihrem Dorf hause nämlich ein gräßlicher Drache, der schon so manchen Bauern getötet und selbst Ritter nicht verschont habe.
Franz lachte, da er nicht an Drachen glaubte. Dann wurde er nachdenklich. Die guten Leute waren zwar nicht dialektisch geschult, ihre naiven Folgerungen waren lachhaft, aber sie waren hinwiederum auch nicht blöd. Irgend etwas mußte also in dem Sumpf sein. Von nahem gesehen hatte es allerdings noch keiner, es schien, als überlebte man den Anblick nicht. Ein Bär? Nein, ein Drache.
Nithart riet ab, die Sache sei wichtiger, aber Franz, der Volksheld, wollte keinen Bedürftigen umsonst flehen lassen. Längst hätte er sich bei Schilling und Hladko melden müssen, aber auch das scherte ihn derzeit wenig.
In jenem Dorf - Nithart kannte es nicht - wurden die beiden begrüßt, als hätte Franz den Drachen schon besiegt. Die Bauern tafelten auf, und die beiden Gäste ließen es sich schmecken. Franz ließ sich die im Dorf verborgen aufbewahrten Waffen zeigen, wählte den größten Bogen und die stabilsten Pfeile aus, machte ein paar Probeschüsse und war mit dem Ergebnis zufrieden, ohne zu bemerken, daß er wiederum ein Stückchen Legende in Umlauf setzte: Auf ein so entferntes Ziel hatten die Bauern noch nie jemanden schießen und gar treffen sehen. Sicher gab es in jener Zeit vergleichbare und bessere Schützen, jedoch hatten die ihre Künste nicht in dem abgelegenen Weiler vorgeführt. Der leibhaftig anwesende Recke vertauschte den Leinengurt seines Hemdkittels mit einem ledernen Schwertgehänge, über dessen Herkunft die Dörfler sich ausschwiegen.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Gerenot, einer der Boten, führte sie. Im Sumpf vergingen Nithart endgültig die Witze. Gerenot schritt stumm und zag voraus, und langsam wurde es auch Franz unbehaglich. Was, wenn es doch Drachen gab? Er packte den Bogen fester und entsann sich seiner wissenschaftlich begründeten Weltanschauung.
Stundenlang durchstreiften sie die Sümpfe und Wälder. Der furchtbare Drache, so es ihn gab, hielt sich erfolgreich verborgen. Das war Gerenot und Nithart sichtbar angenehm. Franz hingegen tat, als sei er enttäuscht. Als die Sonne unterging, machten sie sich auf den Heimweg. Nithart trat seitwärts in die Büsche, um sein Geschäft zu verrichten, die beiden anderen gingen langsam weiter. Plötzlich hörten sie wütendes Schnauben. Nithart schrie. Gerenot jagte durch das Unterholz davon. Franz blieb starr stehen und ließ den Bogen fallen.
»Hilfe!« Nithart war also noch nicht im Feueratem des Ungeheuers verkohlt. Wenn man in Drachenblut badet, bekommt man eine Hornhaut, fiel Franz ein. Man soll über das Blut des Drachen nicht verfügen, ehe man ihn erlegt hat. Ich kann Nithart nicht seinem Schicksal überlassen.
Entschlossen hob Franz Pasoldt seinen Bogen auf, überprüfte den korrekten Sitz seines Kurzschwertes, legte einen Pfeil auf und drang, den gespannten Bogen vorgestreckt, in das Gebüsch ein, hinter dem er Nithart wußte und den Drachen vermutete.
Nithart lag am Boden und stöhnte. Seine Hose war zerfetzt, sein linker Unterschenkel blutete. Vorsichtig spähte Franz nach allen Seiten und trat dann auf Nithart zu. Noch ehe er ihn fragen konnte, was eigentlich vorgefallen war, knackte es im Unterholz. Ein großes schwarzes Tier jagte auf ihn zu. Ohne zu zielen, fast reflektorisch, schoß der Praktikant.
Der Erfolg des aufs Geratewohl abgefeuerten Pfeils war überwältigend. Das schwarze Monster brach zusammen, grunzte noch einmal und zuckte dann mit den Beinen. Schnell legte Franz einen neuen Pfeil auf, wer weiß, was da noch alles im Busch steckte. Aber es blieb ruhig.
Es war ein simples Wildschwein. Die Bache hatte ihre Frischlinge gesäugt, Nithart war ihr, ohne sie zu sehen, zu nahe gekommen, sie hatte ihn vertrieben, hatte seltsamerweise nach dem ersten Erfolg sofort von dem Bauern abgelassen und erst wieder angegriffen, als der nächste Mensch auftauchte.
Nun war sie tot, und Franz dachte sofort an das Schicksal der bedauernswerten Frischlinge, die er quieken hörte. Zunächst kümmerte er sich jedoch, wie es sich gehörte, um seinen Begleiter.
Nithart lag noch immer stöhnend am Boden. Als er seinen gefährlichen Feind tot wußte, belebte er sich, setzte sich auf und bot sein Bein einer Untersuchung dar. Keine ernsthafte Verletzung, diagnostizierte Franz mit dem unerschütterlichen Wissen eines einwöchigen Hilfssanitäterlehrganges. Nithart glaubte dem Recken und erhob sich. Gemeinsam gingen sie zu den Frischlingen. Acht längsgestreifte Schweinchen warteten im Nest auf ihre Mutter. Was wird mit ihnen? Die kommen doch um!
»Was heißt umkommen!« sagte der pragmatisch veranlagte Nithart. »Das sind Leckerbissen!«
Er zog seinen Hemdkittel aus, formte daraus einen Sack und sammelte die Frischlinge ein. Die quiekten und liefen davon, aber Franz konnte sie einfangen. Den Abtransport der Bache allerdings konnten sie nicht bewältigen. Überhaupt wußten sie nicht so recht, wo sie sich befanden. Ihr Führer blieb verschwunden, auch lautes Rufen lockte ihn nicht herbei. Den Heimweg selber zu suchen, gaben sie auf, als Franz in ein Schlammloch tappte und dahinter Sumpf vermutete. Es war eine unbehagliche Situation. Franz entsann sich, gelernt zu haben, daß Schweine gesellig lebten, in Rüdem. Galt das auch für die Zeit, in der die Bache ihre Jungen säugte? Ein Königreich für ein Biologiebuch!
Es wurde Nacht. Nithart, mit nacktem Oberkörper, fror. Sie erwogen, ob sie auf einen Baum klettern sollten, als sie Rufe hörten und bald darauf auch Fackelschein sahen. Gerenot hatte die Dorfbewohner mobilisiert und kam nun mit stattlicher Eskorte, um sich vom Schicksal der Drachenbezwinger zu überzeugen. Die Wiedersehensfreude war groß, auf beiden Seiten. Natürlich sahen alle, daß der Recke ein Wildschwein statt eines Drachen erjagt hatte, aber darüber ärgerten sie sich nicht. Nach allem, was man über sie wußte, waren Lindwürmer ungenießbar, während Schweinebraten als Delikatesse galt. Im übrigen machte es für die geplante Erhebung einen besseren Eindruck, wenn der Anführer nicht nur ein simpler Wildschweinbezwinger, sondern ein Drachentöter war. Ganz abgesehen davon, daß es eine unbestreitbare Meisterleistung war, eine anstürmende Bache mit nur einem Pfeil niederzustrecken.
»Du bist wie Sifrit«, sagte ein Bauer, und ein anderer: »Du bist Sifrit!«
»Helmfrit«, korrigierte Franz.
»Sifrit!« beharrten mit schlauem Lächeln die Bauern.
Ein brünetter, schlaksiger Siegfried mit Stupsnase. Franz lächelte und ließ sich den Namen gefallen, still erstaunt darüber, wieviel die für naiv gehaltenen Leute von Propaganda verstanden.
Nitharts in der Tat unbedeutende Verletzung erhielt die gebührende Beachtung und sachkundige Pflege. Am Freudenfest, das sie am nächsten Tag feiern würden, könnte er wohl schon wieder teilnehmen.
Gegen Mitternacht - Franz schätzte die Zeit, eine Uhr hatte er nicht mitnehmen dürfen - langten sie mit ihrer stattlichen Beute in Gerenots Weiler an und begaben sich auf der Stelle zur Ruhe.
Die beiden Helden schliefen bis gegen Mittag. Da kamen die Bauern von den Feldern zurück und bereiteten das Fest vor. Bald steckten Bache und Frischlinge auf drehbaren Spießen über offenen Feuern. Männer, Frauen und Kinder saßen um die Feuer und schwatzten miteinander. Das Leben ist herrlich, dachte Franz.
Hufschlag näherte sich schnell, fünf Reiter sprengten ins Dorf. Und Franz war waffenlos. Zwar wußte er nicht, wer da eindrang, aber er ahnte, daß es nichts Gutes bedeuten konnte.
»Unser Graf Notker«, raunte ihm Gerenot zu.
Wer von den Fünfen gemeint war, erkannte Franz mühelos. Zwar war er nicht sonderlich prunkvoll gekleidet, trug, wie seine Begleiter, den zeitüblichen Hemdkittel und die engen langen Hosen, aus feineren Geweben verfertigt und leuchtender eingefärbt als bei den Bauern. Alle fünf Reiter hatten strumpfartige Lederstiefel an den Füßen, und drei trugen auf der Schulter geschlossene Mäntel. Einer der Mantelträger war als der Graf kenntlich. Das bewirkte der arrogante, finstere Blick, mit dem er die bei seinem Erscheinen auf die Knie gefallenen Bauern musterte. Ein Blick, der Franz an jemanden erinnerte, nur wußte er nicht, an wen. Ein Blick, den nur haben kann, wer Macht besitzt und sie genießt. Der Blick eines Herrschers.
Natürlich war Franz nicht auf die Idee gekommen, sich ebenfalls zu Boden zu werfen. Soviel er wußte, war das nicht zeitüblich. Und selbst wenn - für einen Helden schickte es sich nicht. Der Graf sah über ihn hinweg. Alle schwiegen. Auch die Pferde verhielten sich still. Man hörte das Knistern der Feuer.
Und dann sprach der Graf, leise, mit kalter, leidenschaftsloser Stimme: »Man jagt in meinen Wäldern. Man feiert, anstatt die Felder zu bestellen. Die Sümpfe breiten sich aus. Die Wälder überwuchern das Ackerland. Man feiert. Für das gebotene Thing freilich hat man keine Zeit. Und aus dem Zehnten möchte man den Hundertsten machen, weil zu wenig wächst. Man wird in Zukunft das Doppelte liefern.«
Das Schweigen dauerte an. Der Graf hatte keine Frage gestellt, also durfte wohl niemand antworten. Franz war entsetzt. Das waren doch freie Bauern, keine Hörigen! Was alles ließen sie sich bieten? Welche sonderbare Macht besaß dieser Notker? Gerne hätte er den arroganten Kerl in seine Schranken verwiesen, jedoch ließ sich aus dem untypisch unterwürfigen Verhalten der Bauern folgern, daß sie ihn nicht unterstützen würden, und alleine konnte er mit fünf bewaffneten, sicher kampferprobten Berittenen auf keinen Fall fertig werden.
»Wer hat die Sau getötet?« fragte der Graf.
»Er, gnädiger Herr«, der Dorfälteste wies auf Helmfrit. Franz erhob sich. Jetzt würde er einem Kampf nicht mehr ausweichen können.
Es gab keinen Kampf. Der Graf gab mit der rechten Hand ein kaum bemerkbares Zeichen, die beiden Mantellosen sprangen von den Pferden und packten Franz, ehe der eine Bewegung zu seiner Verteidigung machen konnte, drehten ihm die Arme auf den Rücken und führten den Hilflosen aus der Menge. Sie rammten seinen Kopf gegen einen Baum am Rande des Dorfangers. Stöhnend sank Franz auf die Knie. Die Bauern starrten angstvoll hinüber. Nithart flüsterte Gerenot zu, man müsse etwas tun, aber der tat, als hörte er nichts. Die Bauern, die dem Baum am nächsten waren, rutschten auf den Knien zurück, um nicht in die bevorstehende Exekution verwickelt zu werden.
Der Graf musterte sie verächtlich, wandte sein Pferd und ritt zur Linde, wo die beiden Mantellosen versuchten, Franz durch Schläge wieder auf die Füße zu bringen oder endgültig zu Boden zu strecken. Obwohl sie seine Arme losgelassen hatten, war er nicht zur Gegenwehr fähig. Als der Graf neben ihm sein Pferd zügelte, ließen sie von ihm ab. Franz richtete sich auf, lehnte sich an den Baumstamm und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
»Du bist nicht von hier«, stellte der Graf fest. »Woher?«
Da nicht anzunehmen war, daß Notker alle Bauern seines Bereiches persönlich kennen konnte, mußte ihm wohl Franzens Größe aufgefallen sein, vielleicht auch die Tatsache, daß er seiner zarten Fußsohlen wegen Bundschuhe trug, während die anderen Bauern im Sommer barfuß gingen. Oder war es seine Frechheit, ein Wildschwein zu schießen und vor dem Herren nicht niederzuknien?
Franz blieb keine andere Wahl. Er zog den Brustbeutel hervor, öffnete ihn. Heraus nahm er den Ring, den ihm Schilling für Notfälle mitgegeben hatte, und reichte ihn dem Grafen. Der betrachtete ihn genau.
»Wie kommst du dazu?«
»Bischof Rutger ...«, stammelte Franz; er zwang sich zur Ruhe, aber die Beine zitterten weiter.
»Freund Rutger. Er schrieb mir. Ihr seid also Graf Helmfrit. Was beabsichtigt der Bischof?«
An Franzens Stirn wuchs eine mächtige Beule.
Der Schädel schmerzte, die Beine zitterten noch immer, aber der Praktikant riß sich zusammen.
»Seine genauen Pläne wird er Euch zu gegebener Zeit mitteilen«, sagte Franz frech. »Erst muß ich meine Mission zu Ende führen.«
»Ein kluger Mann, unser Bischof, weiß seine Leute auszuwählen. Fast hätte ich Euch für einen Bauern gehalten. Wie wahren wir jetzt unser Gesicht?«
»Meine Mission kommt auch Euch zugute. So laßt mich denn laufen.«
»Ohne Peitsche?«
»Peitsche? Ich verstehe nicht.«
»Die Sau muß ich Euch durchgehen lassen - die Hand mag ich Euch nicht abschlagen, Rutger zuliebe. Aber Ihr habt zudem nicht vorschriftsmäßig gegrüßt. Decke ich Euer Inkognito auf, ist die Mission gescheitert. Bleibt Ihr straffrei, werden die Bauern widersetzlich. Ihr könnt frei wählen.«
Helmfrits Beine zitterten stärker. Wie hatte er dieses blutige Mittelalter schön finden können? Wie eigentlich schafften es Leute wie der Dorfälteste, alt zu werden? Franz Pasoldt haßte die Bauern, die demütig seiner Mißhandlung zugesehen hatten. Zugleich verstand er ihre Passivität, denn er selber fühlte sich ohnmächtig. War er es wirklich? Unsinn! Ein simpler Graf des 9. Jahrhunderts konnte der zungenfertigen Demagogie eines angehenden Gesellschaftswissenschaftlers aus dem 21. Jahrhundert nicht gewachsen sein.
»So will ich Euch denn, soweit ich darf, Einblick in die Pläne von Bischof Rutger und Graf Ither geben«, setzte Franz an und erfand dann, Rutgers Plan bestünde eben darin, die aufruhrwilligen Bauern aufzustacheln, um die Schlimmsten auf frischer Tat ertappen und so den Aufruhr auf Jahrzehnte im Keim ersticken zu können. So sei jedes Zeichen von Schwäche, das der hochverehrte Graf Notker jetzt zu erkennen gäbe, im Sinne des Planes und werde auf lange Sicht seine Herrschaft festigen.
»Meine Herrschaft ist fest. Selbst die Freien knien vor mir. Gibt Euch das nicht zu denken?«
»Wißt Ihr, was sich hinter ihren Stirnen abspielt?«
Es ging Notker gegen den Strich, das war deutlich zu sehen. Wenn es nach ihm gegangen wäre - und das verschwieg er nicht -, hätte er das Dorf niedergebrannt und ein paar Leute hinrichten lassen. Aber das ließ sich gegebenenfalls nachholen. Rutgers Einfluß war groß genug, den Grafen gegen seine Überzeugung handeln zu lassen. Selbst auf die Mitnahme der Bache und der Frischlinge verzichtete er - ohnehin brannten sie gerade an, wie deutlich zu riechen war. Als Franz gar darum bat, ihm einige Worte in einer unverständlichen Sprache nachrufen zu dürfen, woraufhin sich niemand umwenden solle, war der Graf von der improvisatorischen Geschicklichkeit Helmfrits beeindruckt. Er gab seinen Begleitern, deren keiner ein Wort gesprochen hatte, ein Zeichen, und er warf Franz den Ring zu. Die Mantellosen sprangen auf ihre Pferde. Graf Notker und Gefolge sprengten durch das Dorf davon.
»Ihr blöden Schweine!« brüllte Franz ihnen in seiner Muttersprache nach.
»Ich kriege euch! Auspeitschen! Dorf abfackeln! Das könnte euch so passen! Bei mir nicht, meine Herren!«
Die Bauern erhoben sich, die Reiter waren längst außer Sicht- und Hörweite. Die Frauen eilten auf der Stelle zu den Braten, um zu retten, was noch zu retten war. Der Älteste, Gerenot und Nithart gingen langsam zu Franz hinüber. Der wußte nicht, wie er ihnen entgegentreten sollte. Vom Gespräch mit dem Grafen konnte niemand etwas gehört haben, und sollten bis zu den Nächstknienden doch ein paar Worte gedrungen sein, hatte die Thematik sie sicherlich überfordert. Aber alle hatten gesehen, wie er, der unüberwindliche Sifrit, gedemütigt und zusammengeschlagen wurde; sein Mund blutete jetzt noch. Ließ sich sein Sifrit-Image jetzt noch aufrechterhalten?
Der getreue Nithart klärte die Situation. Strahlend sagte er: »Wie hast du das nur wieder geschafft?! Die fünf übelsten Raufbolde des Landes in die Flucht geschlagen!«
»Wir gaben uns alle verloren«, stimmte der Älteste zu.
»Aber unser Sifrit wird noch mit ganz anderen Schwierigkeiten fertig.« Gerenot strahlte seinen Helden an.
»Es war Zauber«, stellte der Älteste sachlich fest. »Dein Zauberspruch hat sie vertrieben.«
Franz sah keinen Anlaß zum Widersprechen. Und so ging, womit noch vor einer Viertelstunde niemand gerechnet hatte, das Fest weiter. Alle wurden schnell fröhlich, am meisten die Dorfköter, die die versengten Fleischstücken fressen durften. Nur Franz brütete dumpf vor sich hin. Aber ein zauberkundiger Held durfte Würde bewahren, niemand nahm Anstoß daran.
Am Morgen machten sich Franz und Nithart auf den Heimweg. Fünf Tage wanderten sie, wurden in den Dörfern, durch die sie kamen, so triumphal begrüßt, daß es Franz anfangs peinlich war. Weshalb aus der zufällig erlegten Sau ein Drache geworden war und woher die Bauern überhaupt vom Drachenkampf wußten, war nicht herauszufinden. Seine Demütigung durch den Grafen gar wurde in eine siegreiche Schlacht uminterpretiert - von den hundert Gegnern sollte keiner übriggeblieben sein. Bewußt ausgestreute Legenden oder Übertreibung? Die Hauptsache, es nutzt unserer Sache, beruhigte sich Franz schließlich und ließ sich willig feiern. Sie hatten ja so Unrecht nicht. Das Wildschwein hätte ebensogut ein Drache sein können, und dem herrschsüchtigen Grafen war er recht tapfer entgegengetreten und hatte ihn letztlich vertrieben.
In der Nähe von Nitharts Heimatdorf trennten sie sich. Franz hatte einen Kampfgefährten aus Karls Heer erfunden, einen Recken gleich ihm, den er für den Aufstand gewinnen wolle. Er trug seinem Freund Grüße an Otfrit und Familie, insbesondere an Gebba auf, und er schwor, daß er so schnell wie möglich nachkommen werde. Der Paladin des Helden hinkte davon, und der Held machte sich mit dem Gedanken vertraut, daß er in wenigen Stunden wieder ein unbedeutender Praktikant sein würde, der vor seinen Dozenten Rechenschaft abzulegen hat. Ihm war unbehaglich zumute. Das Leben eines Helden war leichter als das eines Praktikanten, selbst Wildschweinen und mordlustigen Grafen gegenüber. Um sich Mut zu machen, pfiff er Wagners Walkürenritt.
Am Tor von Ithers Burg wollte er sich mit der Parole und mit des Bischofs Ring ausweisen, aber der Posten ließ es nicht dazu kommen. Er verbeugte sich vor dem Bauern und führte ihn auf der Stelle zum Grafen, der ihn also ungeduldig erwartet hatte. Ither verabschiedete seine Gefolgsleute und schickte nach dem Bischof.
Sie setzten sich auf die Stühle, die Schilling um seiner Bequemlichkeit willen nach nicht ganz zeitentsprechendem Zuschnitt hatte anfertigen lassen. Franz wollte berichten, wurde aber mit Vorwürfen daran gehindert. Eine Woche war vereinbart gewesen, weggeblieben sei er fast drei. Das sei, wodurch auch immer bedingt, eine Disziplinlosigkeit, die gemeldet und geahndet werden müsse. Das oberste Gebot des Erkunders, auch wenn es nicht explizit in den SIZEV-Regeln stehe, heiße Disziplin. Und nun solle er endlich über die Stimmung des Volkes berichten, falls er sich außer mit Kneipenschlägereien - keine Widerrede, man sieht die Spuren deutlich - auch noch mit seiner Aufgabe beschäftigt haben sollte.
Zuvor habe er noch eine wichtige Frage, sagte Ither-Hladko in Franzens ersten Satz hinein. Ihnen sei zu Ohren gekommen, daß sich zur Zeit ein fahrender Ritter in der Gegend aufhalte, der Drachen töte und des Volkes Freund sei. Ob er von ihm gehört habe.
»Ich bin der Drachentöter«, sagte Franz bescheiden.
»Unsinn!« fuhr ihm der Bischof über den Mund.
»Es stimmt wirklich, Herr Professor. Darum komme ich auch so spät. Ich wurde gebeten, einen Drachen zu töten, und um der Aufgabe willen mußte ich handeln.«
»Es gibt keine Drachen!«
»Na ja, es war ein Wildschwein.« »Verscheißern können wir uns alleine.« Franz 'beschwor seine Ernsthaftigkeit und erzählte den Ablauf der Jagd. Er erwartete Lob für seine Tat.
»Du bist wahnsinnig«, sagte der bischöfliche Professor. »Mit Pfeil und Bogen gegen Wildschweine! Und nicht genug damit, daß du dich selbst in Gefahr gebracht hast, nein, du setzt gleich noch eine neue Legende in Umlauf: Siegfried, der Drachentöter, lebt! Eine heidnische Legende, versteht sich. Wie sollen wir hier mit der Christianisierung vorankommen, wenn heidnische Helden Wunderdinge vollbringen, ni?«
»Aber Hochwürden, Sie sind doch Atheist!« »Sie vergreifen sich im Ton, Pasoldt!« »Und aufgepaßt haben Sie auch nicht«, fügte HIadko-Ither hinzu. »Laut zweiter SIZEV-Regel haben wir Partei für den gesellschaftlichen Fortschritt zu ergreifen, und der ist im 9. Jahrhundert nicht die heidnische Götzenverehrung, sondern das Christentum. Machen Sie nur weiter so, das wird sich auf Ihre Benotung auswirken!«
Franz schluckte, sagte, das sei noch längst nicht alles, und erstattete dann endlich seinen Gesamtbericht, aus dem er nur Gebba ausließ. Nun waren die Herren doch überrascht, und insbesondere Schilling äußerte sich erfreut. Der Praktikant habe seine Erwartungen weit übertroffen. Er wußte nicht nur von dem geplanten Aufstand, sondern war dessen Führer. Das war eine Konstellation, die sich überblicken und steuern ließ. Vielleicht konnte man den Einflußbereich ausdehnen. Graf Notker, der sich an Franz vergriffen hatte und der generell zu übertriebener Grausamkeit neigte, mußte weg, das war beschlossene Sache. Und Wido, das Monstrum? Würde seine Strafe erhalten. Die Chancen standen gar nicht so schlecht für die Sache der Bauern. Und nebenbei, wie Franz zu spüren meinte, auch nicht für die privaten Pläne des Bischofs Rutger und des Grafen Ither, die von einem nicht gegen sie gerichteten Aufstand profitieren könnten.
»Eines muß dir klar sein«, sagte Professor Schilling. »Wenn es einen Aufstand gibt, übernehmen wir die Leitung. Du führst unsere Weisungen aus. Wir errechnen die Verhaltensvarianten und erarbeiten eine wissenschaftlich begründete Taktik. Wann treffen sich die Anführer?«
»Übermorgen.«
»Das ist recht knapp.«
»Wir werden es schon schaffen«, mischte sich Dr. Hladko mit ungewohnter Freundlichkeit ein; offenbar hatte auch ihn Franzens Leistung überzeugt. »Du mußt dich aber vorher bei uns melden. Übermorgen nachmittag. Wir geben dir die Linie. Keine eigenmächtigen Aktionen mehr, auch wenn bisher alles gutgegangen ist!«
Franz war wieder zu Hause. Ja, so mußte es sein, wenn man heimkommt: Keine Vorwürfe, sondern Jubel und Herzlichkeit. Held Helmfrit, Sifrit der Drachentöter, war wieder bei den Seinen, und die feierten ihn. Sie saßen um ein Feuer auf dem Dorfplatz, und Nithart erzählte zum dutzendsten Male, wie Helmfrit einen vierköpfigen, feuerspeienden Drachen besiegt hatte, um anschließend in dessen Blut zu baden. Und später hatte er einen Grafen mitsamt Gefolge durch sein bloßes Wort verjagt.
Von Helmfrit hatten es die Bauern nicht anders erwartet, aber über Nithart waren sie erstaunt: Der kleine, unscheinbare Mann hatte so lange schon in ihrer Mitte gelebt, und niemand hatte geahnt, daß er zum Knappen von Drachentötern taugte.
Spät gingen sie schlafen. Franz legte sich wie selbstverständlich zu Gebba. Inzwischen machte ihm die Anwesenheit der anderen nichts mehr aus, er wurde aktiv. Das Mädchen hatte Scheu vor dem gewaltigen Helden, wagte aber auch nicht, sich ihm zu widersetzen. Das Mittelalter ist doch schön, dachte Franz, ehe er einschlief.
Erst am Mittag erwachte er. Niemand sonst war in der Hütte. Er rief nach Gebba. Schließlich erhob er sich, klopfte das Stroh aus der Kleidung und suchte sich etwas zu essen. Auf dem Dorfplatz gackerten Hühner, und Schweine rannten umher. Menschen waren nicht zu sehen. Vom Waldrand drangen Kinderstimmen herüber. Franz ging darauf zu. Näherkommend hörte er, daß sie Sifrit, Nithart und der Drache spielten. Als sie den echten Sifrit sahen, rannten sie ihm entgegen. Die Verödung des Dorfes fand ihre simple Erklärung darin, daß alle auf den Feldern waren. Die Kinder führten ihren Helden.
Otfrit kam ihm entgegen. Als erstes scheuchte er die Kinder weg. Die verschwanden tatsächlich schnell, noch ehe jemand auf die Idee kommen konnte; daß auch sie auf den Feldern helfen müßten. Otfrit hatte anderes im Kopf. Er sagte, daß er sich freue, den Helden unter vier Augen sprechen zu können. Es gehe um seine Tochter Gebba.
»Ich habe natürlich gehört, was ihr heute nacht miteinander getrieben habt. Sie ist ein gesundes, kräftiges Mädchen, du bist ein gesunder, kräftiger Mann, also ist nichts dagegen zu sagen, wenn ihr euch zusammentut. Aber für dich kann es nur ein Abenteuer sein. Ich weiß, daß du nicht der bist, für den du dich ausgibst.«
Um Gottes willen, dachte Franz, woher nur?
»Du bist kein Bauer, sondern ein Ritter. Du bist nicht Helmfrit, sondern einer aus Sifrits Sippe. Was könnte dir ein einfaches Mädchen wie meine Gebba schon bieten! Aber sie nimmt es sehr ernst, und es würde sie bekümmern, wenn du weiterziehst. Ich bitte dich also: Geh schonend mit ihr um oder laß sie in Frieden.«
Diese ollen Germanen sind unberechenbar, dachte Franz. Erst legen sie mir ein scharfes Weib ins Bett, und dann wundern sie sich, wenn ich die Gabe annehme. Ach was, sie gefällt mir ja unwahrscheinlich, was Besseres finde ich nie, wenigstens nicht bei uns.
»Was heißt hier Abenteuer«, sagte Franz. »Es ist mir Ernst. Ich möchte deine Tochter heiraten.«
Franz hatte erwartet, daß Otfrit nun noch eine Weile herumbarmen oder herumwundern würde. Aber dies war eine Zeit, in der Manneswort noch zählte. Otfrit fiel ihm um den Hals und küßte ihn auf die Wangen.
»Und wann?«
»So schnell wie möglich.«
»Also sofort«, entschied der künftige Schwiegervater des Helden.
»Wie heiratet man hier eigentlich?«
»Wie überall.« Otfrit hob die Schultern.
»Ich habe keine Ahnung«, bekannte Franz. »Weißt du, ich habe noch nie geheiratet.«
»Na, das wäre ja auch noch schöner!«
Otfrit wunderte sich, daß der Held über etwas so Alltägliches nichts wußte, aber er gab die erwarteten Auskünfte. Helmfrit müsse den Brautpreis zahlen und dann das Beilager vollziehen.
»Das haben wir ja schon.«
»Davon wissen aber nur wir. Nein, tut mir leid, das muß wiederholt werden.«
»Gerne ... wenn es sein muß. Was ist der Brautpreis?«
In Anbetracht der Schönheit seiner Tochter halte er, Otfrit zögerte, sprach es dann aber doch aus, einen Preis von 30 Kühen für angemessen.
»Woher soll ich Kühe nehmen?«
»Du hast etwas Geld, und sicher wirst du im Kampf mit den Grafen noch mehr bekommen.«
»Wieviel kostet denn eine Kuh?«
»Derzeit acht Schillinge.«
»Ach so.« Ither hatte Franz mit zwei Beuteln zu je 250 Schillingen ausgerüstet und sie einzufordern vergessen. Einer davon schon würde für Gebba reichen.
Otfrit verstand Franzens Äußerung anders. Der Preis war ungewöhnlich hoch, ein Bauer konnte sie nicht bezahlen, selbst wenn er die Summe nach dem Verkauf seines Gutes besitzen mochte: Wovon wollte er leben, gab er sie weg? Also sagte Otfrit, daß ihm eine Anzahlung von 20 Schillingen reichen würde. Als Franz abwinkte und einen seiner Geldbeutel präsentierte, wußte der Bauer endgültig, daß sein Gast ein verkleideter Königssohn war. Gebba wird Prinzessin. Wer hätte das gedacht. Das Geld gab er zurück, es müsse vor Zeugen übergeben werden.

Am späten Nachmittag war es soweit. Die meisten Bauern waren von den Feldern zurückgekehrt. Gebba hatte ihre dunkelbraune, grobleinene Tunika mit einer feiner gewebten, hellblauen vertauscht und ihre lang herunterfallenden blonden Haare gelockt. Sie sah so schön aus, daß Franz seinen Augenblicksentschluß nicht bereute. Auf dem Dorfplatz übergab er Otfrit den Geldbeutel, und der zählte den anderen den Inhalt vor. Tatsächlich, 250 Schillinge. Otfrit war der reichste Mann des Dorfes, und der glücklichste mit einem solchen Schwiegersohn. Das ganze Dorf fühlte sich geehrt. Es gab Met zu trinken, und lärmende Fröhlichkeit brach aus.
Endlich wurde das junge Paar zu Otfrits Hütte geführt und allein gelassen. Draußen wurde weitergefeiert, aber der Lärm störte Franz nicht. Er zog Gebba aus und hatte nun das erste Mal die Gelegenheit, seinen neuen Besitz, seine Frau, in voller Schönheit zu bewundern. Und es war wie ein Wunder. Die Mode der Zeit erschien Franz nicht als sonderlich kleidsam. Nackt unterschied sich Gebba nicht von einem Mädchen seiner Zeit, abgesehen davon, daß sie frischer, schöner, natürlicher war und daß sie ihm treu bis in den Tod sein würde. Treu bis in den Tod - das ist auch eine Verantwortung. Was würde er mit ihr machen, wenn das Praktikum beendet wäre? Könnte er sie mit nach Berlin nehmen? Oder sollte er hierbleiben?
Die Zukunft lag fern, Gebbas schöner Körper nahe. Franz warf seine Kleider ab und stürzte sich auf seine Frau.
Eine Stunde später guckte Otfrit in die Hütte und gab dann nach draußen ein Zeichen. Ehe die er schöpften, schweißnassen Jungvermählten auch nur Zeit gefunden hatten, sich zu bedecken, war der Raum gefüllt von lärmenden Menschen. Da sich niemand wunderte, schien das wohl seine Ordnung zu haben. Immerhin warf Otfrits Frau ihnen eine Decke zu, und Franz legte sie über Gebba und sich.
»Was soll das?« fragte er leise seine Frau.
Die hatte schon von ihrem Vater gehört, daß Helmfrit in Ehefragen sehr unberaten war, und gab daher Auskunft: »Unsere Gäste. Sie bringen Geschenke und wollen uns Glück wünschen.«
»Und wir müssen hier die ganze Zeit liegenbleiben?«
»Wir bleiben bis morgen liegen.«
»Eine schöne Vorstellung - wenn nicht die Leute wären ...«
»Die gehen wieder.«
»Und deine Familie?«
»Schläft heute bei Nachbarn.«
Alle hatten sich um das Beilager versammelt. Otfrit hielt eine feierliche Ansprache, die darauf hinauslief, wie glücklich alle seien, daß Sifrit, der sich Helmfrit nenne, nun zu ihnen gehöre. Auch Freund Nithart quälte sich ein paar feierliche Worte ab, aber am Ende wurde es doch eine Blödelei: Den Schweinen und Drachen habe Sifrit widerstanden, nun jedoch habe ihn eine Schlange eingefangen.
Die Gäste lärmten, tranken, aßen, beschenkten das Paar. Das Hauptgeschenk bestand aus dem Versprechen, Helmfrit in den nächsten Tagen eine Hütte zu bauen. Gebba durfte ihr Brautkleid behalten - es hatte einer Nachbarin gehört, und der neureiche Otfrit hatte es ihr abgekauft. Helmfrit auszustaffieren fiel schon schwerer. Immerhin fand sich eine bei den bevorstehenden Kämpfen Schutz bietende Lederweste und ein silberbeschlagener Schwertgürtel, von denen man annehmen konnte, daß der Recke sie nicht gleich beim ersten Anziehen sprengen würde.
Die reichlich genossenen Getränke forderten ihren Tribut. Franz flüsterte Gebba zu, daß er mal müsse.
»Na, geh doch.«
»So, wie ich bin?«
»Dann mach unter dich oder verkneif's dir.« Gebba schüttelte den Kopf. In einfachen Dingen stellte sich ihr kluger Recke erstaunlich blöd an.
Franz war glücklich. Er hatte Ansehen erworben, hatte eine schöne Frau, die ihn anbetete und die auch er liebte, hatte Freunde gefunden, richtige Freunde, nicht bloß auf seine Leistungen neidische Studienkumpel. Was sollte er noch in seiner Zeit, wenn er hier, unter diesen primitiven Verhältnissen und barbarischen Sitten, um so vieles zufriedener war als an den besten Tagen in heimischer Umgebung? Trotzdem würde er die beiden Dozenten aufsuchen müssen, schon um sich abzumelden; auch waren sie zweifellos im Aufstandplanen versierter. Ansonsten sollten sie machen, was sie wollten, weiterbeobachten, bis sie in den Genuß ihrer Pensionen kamen, oder verschwinden. Er würde hier bleiben, wo das Leben noch Spaß machte.
Sein Lerneifer - sicher, ohne ihn wäre er nicht hier, aber er kam ihm albern vor. Absurd, daß so etwas überhaupt nötig war. Diese Leute hier konnten nicht lesen noch schreiben, sie wußten nichts davon, daß die Erde eine Kugel war, hatten noch nicht mal gehört, daß sie eine Scheibe sei. Nichts wußten sie, nicht mal, wie man mit einem Grafen fertig wurde. Dennoch waren sie glücklich. Sie wußten etwas vom Leben, und das, so schien es Franz, war mehr wert als die ganze Geschichte der abendländischen Zivilisation.
Nach stürmischer Hochzeitsnacht und stürmischem Nachhochzeitsmorgen kam die Stunde der Trennung. Er schützte wieder den imaginären Freund vor, den es zu gewinnen gälte, und verabredete sich mit Otfrit und Nithart in der Elbsumpfschenke, wohin auch die anderen Ortsältesten und die kampferprobten oder kampflustigen Anführer kommen sollten. Der Abschied von Gebba fiel ihm besonders schwer. Sie würde er, sagte er, erst in der späten Nacht oder gar am nächsten Morgen wiedersehen. Gebba lächelte, als wüßte sie es besser, und Franz hätte am liebsten alle Aufstandspläne aufgegeben. Aber er hatte keine Wahl.
Graf Ither empfing den Praktikanten allein. Der Bischof sei verhindert, er kümmere sich um überraschend eingetroffene Gäste. Daß Franz dem SIZEV seine Dienste aufkündigte, nahm er unbewegt zur Kenntnis. Auch die Verehelichung des Praktikanten entlockte ihm keine sichtbare Reaktion. Als Franz fertig war, erläuterte er ihm ungerührt die Situation. Das Erstarken des Feudalismus sei historisch notwendig. Jede rückwärtsgewandte Bewegung sei zu unterbinden. Man dürfe ihn nicht mißverstehen: Mit dem Herzen stehe er auf der Seite der unterdrückten Bauern, aber sein Verstand sage ihm, daß nicht sein könne, was nicht sein dürfe. Bauernaufstände an sich seien wichtig, »gerade dadurch werden die Feudalherren gezwungen, Zugeständnisse zu machen und Rechte und Pflichten der Bauern zu fixieren. Diese Rechte werden später die Voraussetzung für das Entstehen freier Städte und damit des Bürgertums bilden. Und diesen welthistorischen Prozeß willst du aufhalten, du, Franz Pasoldt?«
»Aber ich will doch nur ...«
»Mach dir nichts vor, Franz. Du weißt, daß dir in einem Jahr ganz Sachsen gehört. Wenn du Glück hast, zerstörst du Karls Reich. Das ändert den Lauf der Geschichte. Du würdest versuchen, ein Reich der Gerechtigkeit und urgesellschaftlicher Demokratie zu errichten. Aber die Zeit ist noch nicht reif dafür, nicht mal die unsere, schon gar nicht diese.«
»Man kann die Geschichte gar nicht ändern. Sie ist gewesen.«
»Das ist die offizielle Lehrmeinung, ja, und wahrscheinlich stimmt es sogar. Was aber, wenn man die Vergangenheit doch beeinflussen kann? Einstweilen haben wir sie nur in den Lehrbüchern korrigiert, aber nun sind wir in der Lage, direkt einzugreifen. Was passiert dann? Es gibt keine praktischen Erfahrungen. In Berlin, wahrscheinlich sogar noch höheren Ortes, wurde jedenfalls beschlossen, es auf eine Überprüfung der Theorie unter keinen Umständen ankommen zu lassen. So, wie es jetzt ist, ich meine natürlich die Realzeit, nicht das 9. Jahrhundert, so, wie es ist, ist es gut, und das darf nicht gefährdet werden.«
Geschwätz, dachte Franz und sah gelangweilt aus dem Fenster. Bald würde er wieder bei Gebba sein.
»Ich weiß, was du denkst«, behauptete Ither. »Du willst mich niederschlagen und es auf eigene Faust versuchen. Aber ich bin darauf vorbereitet.«
Er zeigte Franz eine Pistole. Franz starrte den Grafen an, wußte nicht, wie er reagieren sollte. Einen Moment lang war er versucht zu lachen, aber das verging ihm, als Hladko weitersprach.
»Nun nehmen wir an, das Unwahrscheinliche gelingt dir, du überwältigst mich, du kommst auch an den Wachen vorbei - denkst du, damit ist etwas gewonnen? Das Institut findet dich. Nehmen wir weiter an, du erwartest das, umgibst dich mit Wachen. Dann schicken wir eine Armee. Wenn du dich aber im Wald versteckst, dann werfen wir eine Bombe! Wir lassen uns den Fortschritt von niemanden kaputtmachen, du idealistisches Arschloch, von niemandem!«
Nun hatte Graf Ither doch die Fassung verloren, aber er konnte mit dem Erfolg zufrieden sein. Franz war im Stuhl zusammengesackt. Zaghaft richtete er sich auf und fragte, ob denn wenigstens die Möglichkeit bestehe, seine Frau mitzunehmen in die eigene Zeit. Das sicherte der Graf dem geschlagenen Volkstribun großmütig zu.
»Was habt ihr vor?« fragte Franz matt.
»Dein bloßes Verschwinden wird die Gefahr abwenden, aber wir werden uns die guten Leute mal ansehen.«
»Ihr wollt ihnen was tun!«
»Na erlaube mal! Wir sind doch keine Schlächter!«
Franz begann langsam, seine Situation zu verstehen. Der Aufstand durfte nicht sein, aber mit Gebba konnte er auch im 21. Jahrhundert glücklich werden. Pech für die Bauern, aber sie kannten es ohnehin nicht anders, sie würden auskommen mit der Zeit, in die hinein sie geboren wurden. Er wirkte so beruhigt, daß Ither sich entschloß, ihm nun die Gäste vorzustellen. Klugerweise nannte er ihm zunächst die Namen, um seine Reaktion zu testen.
»Nein!« rief Franz. »Das ist nicht möglich! Graf Notker, dieser Sadist? Graf Wido, das Monstrum? Das sind eure Freunde?«
»Sympathische, liebenswerte Menschen. Man muß sie nur näher kennenlernen. Und dazu hast du jetzt Gelegenheit!«
»Danke, ich verzichte.«
»Bildest du dir immer noch ein, du hättest die freie Wahl? Du tust, was wir dir sagen. Oder willst du auf deine Gebba - was für 'n Name das! - verzichten?«
Nein, das wollte Franz Pasoldt nicht. Also versprach er, sich manierlich zu verhalten, und folgte dem Grafen zum Bischof. Der strahlte ihn an und stellte ihm seinen lieben Freund, den Grafen Wido vor - Notker kenne er ja bereits.
Wido war ein bulliger, finsterer Mann mit kantigem Gesicht, einäugig, mit wildem, schwarzem Vollbart. Er quälte ein Lächeln auf seine Züge und beglückwünschte den jungen Grafen Helmfrit zu seiner hervorragenden Aufklärungsarbeit.
Franz wich zurück, als der Graf ihm die Hand schütteln wollte. Heimlich zeigte Ither ihm nochmals die Pistole und flüsterte Gebbas Namen. Dadurch verhinderte er, daß Franz aus seiner Rolle fiel, aber er konnte nicht verhindern, daß Wido den angeblichen kaiserlichen Spion von nun an höchst mißtrauisch beobachtete. Notker hingegen blieb freundlich und scherzte über beider Zusammentreffen, das beinahe die Mission zum Scheitern gebracht hätte.
Als es dunkel war, brachen die vier hohen Herren mit ihren Reisigen auf. Franz, gut bewacht von Ither, mußte mit. Er brauchte sie nicht zu führen. Wido und Ither kannten die Schenke.
Franz grübelte, ob es nicht eine Möglichkeit gab, die anderen zu warnen. Er hatte seine Zweifel an der Friedfertigkeit der kleinen Truppe. Aber Ither paßte auf, Franz kam einfach nicht weg.
Was er nicht wußte, war, daß auch einige Frauen mit zur Versammlung gekommen waren, um dafür zu sorgen, daß die Männer nicht trocken und hungrig diskutieren müßten. Gebba hatte gelächelt, als Franz ihr gesagt hatte, sie würden sich erst am nächsten Morgen wiedersehen. Sie wollte ihn überraschen.
Als er zum vereinbarten Zeitpunkt noch nicht da war, ging sie ihm entgegen. Sie bemerkte die Reiter, wollte sich erst verbergen, aber dann erkannte sie unter ihnen, fast an der Spitze, ihren Helmfrit. Den Grafen Wido, der hinter Helmfrit ritt, sah sie nicht. Den Bischof Rutger und die beiden anderen Grafen kannte sie nicht. Also nahm sie an, daß es Helmfrit gelungen war, Verstärkung anzuwerben - einem Prinzen fiel das sicher nicht schwer. Sie rief ihn beim Namen.
Franz erkannte ihre Stimme, und nun gab es kein Zögern mehr. Er schlug den neben ihm reitenden Ither vom Pferd, gab seinem eigenen die Sporen und brüllte: »Verrat! Lauf weg! Warne die a... ahhh...«
Graf Wido hatte zielsicher seinen Speer von hinten durch den Leib des Praktikanten gejagt. Der stürzte vom Pferd. Ither rappelte sich wieder auf. Der Bischof hatte sein Pferd am Zügel gehalten.
Graf Ither sprang auf, kommandierte »Vorwärrrts!«, und der Sturm begann.
Franz lag am Rand des Weges. Er versuchte, den Speer aus seinem Leib zu drücken, aber er schaffte es nicht. Und wozu auch, es war schön, einfach so dazuliegen und diese angenehme Schwäche zu spüren. Eine Mattigkeit, die ihm Ruhe schenken würde.
Er sah nicht, daß es, durch Gebbas Rufe gewarnt, den Bauern gelang, sich provisorisch zu rüsten, sah nicht, daß die Reisigen anfangs in Schwierigkeiten gerieten, sich dann aber mit ihrer Kampferfahrung und Brutalität behaupteten, sah nicht, daß die Reisigen, Wido, Notker und Ither auf die um Gnade bittenden Bauern einhackten, sah nicht, wie Otfrit der Schädel gespalten und Gerenot der Bauch aufgeschlitzt wurde, sah nicht, daß einige Bauern um Nithart in die Sümpfe entkamen. Er sah auch nicht, wie Gebba von den siegestrunkenen Reisigen so oft vergewaltigt wurde, bis sie als Klumpen blutigen Fleisches liegenblieb und dann mit Fußtritten in den Sumpf geschoben wurde wie die anderen Opfer des Gemetzels, die Toten und die Verwundeten. Als der Wirt mit einem Speer an die Tür seiner Hütte genagelt und diese dann angezündet wurde, war der Musterschüler des SIZEV schon verblutet.
Die Dozenten stellten sich neben ihn. Bischof Rutger sprach ein stilles Gebet. Graf Ither lächelte finster und arrogant und überzeugte sich mit der Stiefelspitze vom Tod des Praktikanten.
»Das war noch das beste, was ihm passieren konnte, Rutger. Jetzt werden sie ihm ein Denkmal setzen: Dem tapferen Erkunder, gefallen bei der Erfüllung seiner Pflicht für ...«
»Ach, übrigens, Ither, Freund Wido hat sich erkundigt, ob wir noch so einen fähigen Spion kennen, Sein Bruder hat auch Probleme mit den Bauern.«
»Dem Manne kann geholfen werden. Wir fordern einfach einen neuen Praktikanten an.«
Lächelnd sahen der bischöfliche Gesandte Karls des Großen und der Gaugraf auf das schlaffe Bündel hinunter, das noch vor kurzem Sifrit der Drachentöter gewesen war, der närrische Rebell gegen die gesetzmäßige Entwicklung der Menschheit vom Niederen zum Höheren.

Entstanden 1984, erschienen 1989 in "Lichtjahr 6", Verlag Das Neue Berlin

 

 

 

 

 

 

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